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„Ich... habe von dir geträumt“, murmelte er. „Ich hatte Visionen vom Tod, und jetzt bist du hier.“ Seine langen, grünen Finger berührten den Totenschädel, zu dem sein Gesicht geschminkt war. „Zwei Jahre lang habe ich davon geträumt. Und jetzt bist du zu mir gekommen. Zu uns allen. Du bist hier, um meine Seele zu holen!“

„Absolut nicht. Ich bin hier, um dich zu retten. Aber... du hast teilweise recht. Ich bin deinetwegen hier, allerdings aus anderen Gründen, als du glaubst. Ich will dich zum Anführer machen.“

Ner’zhul war verwirrt. „Anführer? Warum? Damit ich der Horde noch mehr Schaden zufügen kann? Habe ich nicht schon genug angerichtet?“ Der Blick des alten Schamanen wirkte gehetzt. „Nein, so etwas mache ich nicht mehr. Ich habe unser Volk einst direkt in Gul’dans Arme getrieben – und unsere Welt in den Untergang. Die Horde führte ich in eine Schlacht, die uns beinahe vernichtet hätte. Such dir deinen Anführer woanders.“

Blutschatten furchte die Stirn. Es lief nicht wie erwartet, und er konnte Ner’zhul nicht – so wie dessen Klansbrüder – einfach umbringen. Er versuchte es erneut. „Die Horde braucht dich.“

„Die Horde ist tot!“, zischte Ner’zhul. „Die Hälfte unseres Volkes ist fort, gefangen auf dieser schrecklichen Welt und für immer verloren! Wen also sollte ich anführen?“

„Sie sind nicht für immer verloren“, antwortete Blutschatten, und die kühle Sicherheit in seiner Stimme ließ Ner’zhul aufhorchen. „Das Portal ist zerstört, aber es kann repariert werden.“

Das sicherte ihm Ner’zhuls Aufmerksamkeit. „Was? Wie?“

„Ein kleiner Spalt ist auf Azeroth geblieben“, erklärte Blutschatten. „Und diese Seite ist immer noch intakt. Ich habe beim Bau des Dunklen Portals geholfen, ich kann es noch spüren. Ich vermag dir dabei zu helfen, den Spalt so zu erweitern, dass die Horde in der Lage ist, ihn zu passieren.“

Der Schamane schien das einen Moment lang in Betracht zu ziehen, dann aber schüttelte er den Kopf und fiel sichtbar in sich zusammen. „Was hätten wir davon? Die Allianz ist ein zu mächtiger Gegner. Die Horde wird nie gegen sie gewinnen. Unser Volk ist schon so gut wie tot. Alles, was uns bleibt, ist die Wahl der Todesart.“ Wieder berührten seine Finger unbewusst das aufgemalte Gesicht.

Seine Schwäche ekelte Blutschatten an. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Wrack, besessen vom eigenen Tod und dem der anderen, einst so geachtet gewesen war.

Doch bedauerlicherweise brauchte er ihn.

„Der Tod ist nicht die einzige Wahl. Nicht, wenn wir das Portal neu errichten und benutzen“, konterte Blutschatten und zwang sich zur Ruhe. „Wir müssen gar nicht gewinnen, wir müssen nicht einmal gegen die Allianz kämpfen. Ich habe einen anderen Plan für die Horde. Wenn ich bestimmte Artefakte in die Hände bekäme... nun, ich habe ein paar Dinge bei Gul’dan gelernt, die...“

„Gul’dan und seine verqueren Pläne. Die reichen sogar über den Tod hinaus und vernichten weiter Leben!“ Ner’zhul starrte Blutschatten finster an. „Du und deine Pläne! Und wie viel Macht erhältst du, wenn du Erfolg hast? Denn Macht ist doch das Einzige, wonach ihr Bastarde vom Schattenrat strebt!“

Blutschattens Geduld, ohnehin noch nie sehr groß, war am Ende. Er packte den alten Schamanen an den Armen und schüttelte ihn wild. „Zwei Jahre sind seit der Zerstörung des Portals vergangen, und du hast dich in deinem Dorf versteckt, während sich die Klans gegenseitig abgeschlachtet haben. Sie bedürfen nur der Führung, dann sind sie wieder mächtig! Mit deinen Anhängern und meinen Todesrittern können wir die Klans dazu zwingen, dass sie dir gehorchen. Nachdem Schicksalshammer tot oder gefangen ist, bist du der Einzige, der sie führen kann. Ich habe das Portal untersucht, den Schaden abgeschätzt, und wie ich bereits sagte, habe ich eine Lösung. Ich habe einige Todesritter dorthin geschickt. Während wir uns hier unterhalten, arbeiten sie an Zaubern, um das Tor wieder zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass es gelingt.“

„Und wie sieht die Lösung aus?“, spie Ner’zhul bitter hervor. „Ist dir ein Weg eingefallen, wie wir nach Azeroth zurückkehren und den Krieg gewinnen können, den wir vor zwei Jahren verloren haben? Ich glaube nicht. Wir werden niemals gewinnen.“ Er wandte sich ab und machte einen Schritt auf seine Hütte zu.

„Vergiss den Krieg! Hör mir zu, alter Mann!“, rief ihm der Todesritter nach. „Wir müssen die Allianz nicht besiegen, weil wir Azeroth nicht erobern müssen.“

Ner’zhul blieb stehen und sah ihn an. „Aber du hast gesagt, du könntest das Portal wieder öffnen. Wenn wir nicht nach Azeroth wollen, ist das doch völlig überflüssig.“

„Wir werden dorthin zurückkehren. Allerdings nicht, um zu kämpfen.“ Blutschatten trat neben ihn. „Wir müssen nur ein paar Artefakte suchen und herbringen. Wenn wir sie erst haben, verlassen wir Azeroth und kehren niemals zurück.“

„Und bleiben hier?“ Ner’zhul wies mit seiner Hand auf das ausgedörrte Land, das sie umgab. „Du weißt so gut wie ich, dass Draenor stirbt. Bald schon wird es uns Zurückgebliebene nicht mehr ernähren können.“

Blutschatten konnte sich nicht daran erinnern, dass der Schamane früher derart langsam von Begriff gewesen war. „Das muss es auch nicht“, versicherte er ihm. Dabei sprach er langsam, wie zu einem Kind. „Wenn wir diese Artefakte haben, können wir sowohl Azeroth als auch Draenor verlassen und anderswohin gehen. Wo es besser ist.“

Jetzt hatte er Ner’zhuls volle Aufmerksamkeit. Ein Hauch von Hoffnung breitete sich über dessen weiß bemaltes Gesicht. Einen langen Moment lang überlegte Ner’zhul, ob er sich lieber in die Abgeschiedenheit des Selbstmitleids zurückziehen... oder die neuen Möglichkeiten akzeptieren sollte.

„Hast du einen Plan?“, fragte ihn der alte Schamane schließlich.

„Allerdings.“

Es folgte eine lange Pause. Blutschatten wartete.

„Ich werde dir zuhören.“ Ner’zhul wandte sich ab und ging zurück in seine Hütte.

Aber diesmal folgten ihm Teron Blutschatten, die Hexenmeister und die Todesritter.

2

„Schaut euch diesen Ort an!“

Genn Graumarn, König von Gilneas, wies auf die vor ihnen aufragende Zitadelle, durch deren Tore sie gerade gingen. Obwohl er ein großer, stämmiger Mann war, wirkte Graumarn gegen die Burg wie ein Zwerg. Der Bogen des Tores war zweimal so groß wie er selbst. Die anderen Könige nickten, als sie ebenfalls darunter hindurchgingen, und bewunderten die dicken Außenmauern, die aus schweren Blöcken errichtet worden waren. Aber Graumarn schnaubte, und sein Stirnrunzeln bewies, dass er ihre Begeisterung nicht teilte.

„Eine Mauer, ein Turm und eine Burg“, polterte er laut und schaute auf die halb fertigen Gebäude hinter ihm. „Dafür haben wir unser Geld ausgegeben?“

„Sie ist groß“, bemerkte Thoras Trollbann, der Herrscher von Stromgarde, und verschwendete wie üblich so wenig Worte wie möglich. „Groß ist beeindruckend.“

Die anderen Könige murmelten zustimmend. Sie alle bedauerten die Kosten. Vor allen Dingen, weil die Anführer der Allianz sie zu gleichen Teilen tragen mussten.

„Wie viel ist dir deine Sicherheit wert?“, meinte ein großer, schlanker Mann ganz vorne. „Qualität hat nun mal ihren Preis.“

Das Murmeln der anderen verstummte angesichts der unterschwelligen Zurechtweisung. Varian, der neu gekrönte König von Sturmwind, wusste, wie es war, wenn man der Sicherheit beraubt wurde. Seine Reich hatte während des ersten Krieges massiv unter den Orcs gelitten. Der größte Teil der Hauptstadt war verwüstet worden.

„In der Tat. Wie geht es mit dem Wiederaufbau voran, Eure Majestät?“, fragte ein in Marinegrün gekleideter dünner Mann höflich.

„Sehr gut, Herr Admiral“, antwortete Varian. Obwohl Daelin Prachtmeer der Herrscher von Kul Tiras war, bevorzugte er den Marinetitel. „Die Steinmetzgilde leistet exzellente Arbeit, und mein Volk und ich sind ihr zu Dank verpflichtet. Das sind gute Handwerker, die es mit den Zwergen aufnehmen können, und die Stadt wird mit jedem Tag größer.“ Er grinste Graumarn an. „Das ist jedes einzelne Kupferstück wert, würde ich sagen.“