„Khadgar“, sagte sie laut vernehmlich, als sie neben ihn trat. Sie war so groß, dass sie ihm beinahe auf Augenhöhe entgegentreten konnte.
„Alleria“, antwortete er. Liebevolle Erinnerungen erwärmten das Wort. Sie waren noch vor gar nicht so langer Zeit Waffengefährten gewesen, gute Freunde, die einen großen Kampf bestritten hatten. Aber in ihrem grünäugigen Blick lag keine Wärme, genauso wenig in dem Gesicht, das zwar schön, aber ausdruckslos war, wie aus Stein gemeißelt. Alleria war höflich, mehr nicht. Innerlich seufzte Khadgar, als er durch die Tür schritt und ihr bedeutete, ihm zu folgen.
„Ich hoffe, es geht um etwas Wichtiges“, sagte sie beim Eintreten und grüßte die versammelten Herrscher. Trotz ihres gertenschlanken Körpers und dem jugendlich goldenen Haar, war sie deutlich älter als die menschlichen Herrscher, was sie immun gegen ihr majestätenhaftes Auftreten machte. Sie spottete gern darüber. „Ich habe Orcs gejagt.“
„Du jagst immer Orcs“, konterte Khadgar schärfer als beabsichtigt. „Deshalb wollte ich dich ja unter anderem auch hier haben.“
Er wartete, bis er ihre volle Aufmerksamkeit und die der Könige hatte. „Ich habe gerade erklärt, dass wir einen Dimensionsspalt im Dunklen Portal entdeckt haben, Alleria. Und seit Neuestem sind die Energien, die dort durchströmen, dramatisch angestiegen.“
„Was soll das bedeuten?“, wollte Graumarn wissen. „Wollt Ihr uns sagen, dass es stärker wird?“
Der junge, aber alt wirkende Erzmagier nickte. „Ja. Wir glauben, dass sich der Spalt ausdehnt.“
„Hat die Horde einen Weg gefunden, das Portal zu reaktivieren?“, fragte Terenas, der genauso schockiert war wie die anderen.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, antwortete Khadgar. „Aber selbst wenn sie kein stabiles Portal errichten können, werden die Orcs, sobald der Spalt groß genug ist, wieder Zugang zu unserer Welt haben.“
„Ich wusste, dass das passieren würde!“, brüllte Graumarn. „Ich wusste, dass wir diese grünhäutigen Monster noch nicht los sind!“
Neben ihm verzog sich Allerias Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen voller... Anteilnahme?
„Wie bald?“, fragte Trollbann. „Und wie viele?“
„Ich weiß nicht, wie viele“, antwortete Khadgar kopfschüttelnd. „Wie bald? Sehr bald. Vielleicht schon in wenigen Tagen.“
„Was braucht Ihr?“, fragte Terenas leise.
„Ich brauche die Armee der Allianz“, antwortete Khadgar. „Ich brauche die ganze Armee hier, für den Fall, dass der Spalt sich ausdehnt. Es ist gut möglich, dass eine zweite Horde in dieses Tal strömt.“ Er lächelte plötzlich. „Die Söhne Lothars werden erneut gebraucht.“
Die Söhne Lothars. So hatten sie sich selbst genannt, die Veteranen des Zweiten Kriegs. Der Sieg hatte einen hohen Preis gefordert: den Tod des Löwen von Azeroth, Anduin Lothar. Der Mann, dem alle willig gefolgt waren. Khadgar war dabei gewesen, als er fiel. Erschlagen vom Orc-Häuptling Orgrim Schicksalshammer. Und er war dabei gewesen, als sein Freund Turalyon, jetzt General der Allianzarmee, Lothar rächte, indem er Schicksalshammer gefangen nahm. Lothars Schützling war aus seinem Schatten getreten und setzte das heldenhafte Vermächtnis fort. Und so waren die Söhne Lothars entstanden.
„Seid Ihr Euch sicher wegen des Spalts?“, fragte Terenas vorsichtig, bemüht, den Zauberer nicht zu beleidigen. Was, wie Khadgar fand, eine gute Idee war. Aber in diesem Fall fühlte er sich nicht angegriffen.
„Ich wünschte, ich wäre es nicht. Der Energiepegel steigt definitiv an. Bald schon wird die Kraft ausreichen, um den Spalt auszuweiten, sodass die Orcs von Draenor in unsere Welt gelangen können.“ Er fühlte sich plötzlich müde, als hätte ihn die Nachricht irgendwie ausgezehrt. Er schaute wieder zu Alleria hinüber, die den Blick bemerkte und eine Augenbraue hob, sonst aber nicht reagierte.
„Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen“, erklärte Varian. „Ich sage, wir sammeln die Armee der Allianz und machen sie bereit für den Krieg, für alle Fälle.“
„Abgemacht“, sagte Terenas, und die anderen nickten zustimmend.
„Wir müssen General Turalyon informieren“, fuhr Varian fort.
Alleria versteifte sich ein wenig, ein undeutbares Gefühl blitzte über ihr Gesicht, und Khadgars Augen zogen sich zusammen.
Einst waren die elfische Waldläuferin und der menschliche Paladin mehr als bloße Waffengefährten gewesen. Sie taten einander gut, hatte Khadgar immer gedacht. Allerias Alter und Weisheit stärkten Turalyons Geist. Und seine Jugend und Unschuld machten die erschöpfte Elfe sanfter.
Aber etwas war passiert. Khadgar hatte nie erfahren, was, und war höflich genug, um nicht nachzufragen. Eine alarmierend kühle Distanz war zwischen Turalyon und Alleria entstanden.
Sie hatten Khadgar leidgetan, nun fragte er sich, ob sie dadurch Probleme hatten.
Varian schien die subtile Veränderung an Alleria nicht bemerkt zu haben. Er fuhr fort: „Als Oberkommandierender der Allianzarmee ist es seine Aufgabe, die Soldaten zu sammeln und sie auf das hier vorzubereiten. Er befindet sich derzeit in Sturmwind und hilft uns, die Verteidigung aufzubauen und unsere Männer auszubilden.“
Khadgar hatte eine Idee, die zwei Probleme auf einmal löste. „Alleria, du kannst schneller als jeder andere zu Turalyon reisen. Nimm den Greif und flieg nach Sturmwind. Berichte ihm, was geschehen ist, und teil ihm mit, dass er die Allianzarmee sofort zusammenrufen muss.“
Die elfische Waldläuferin schaute Khadgar an, ihre grünen Augen blitzten wütend. „Sicherlich kann auch jemand anders diese Aufgabe übernehmen“, sagte sie scharf.
Aber Khadgar schüttelte den Kopf. „Die Wildhammerzwerge kennen dich und vertrauen dir“, antwortete er. „Und diese Knaben müssen ihre eigenen Arrangements treffen.“ Er seufzte. „Bitte, Alleria, um Himmels Willen, finde ihn, berichte ihm, was geschehen ist, und hol ihn her.“
Und vielleicht könnt ihr beide eure Differenzen beilegen... oder euch zumindest entscheiden zusammenzuarbeiten, dachte er.
Allerias Miene verhärtete sich zu einer unerbittlichen, ausdruckslosen Maske. „Ich tue, was du verlangst.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ die Halle.
„Khadgar hat recht“, sagte Terenas, als er sie weggehen sah. „Wir alle müssen unsere Truppen zusammenrufen und Vorräte herbeibeschaffen, und das sofort.“
Die anderen Könige nickten. Selbst Graumarn war einverstanden. Der Gedanke an eine zurückkehrende Horde hatte ihn massiv erschreckt. Gemeinsam gingen sie zur Tür, zurück in den Schlosshof und von da aus durch die großen Tore, die sie erst vor gerade mal einer Stunde durchschritten hatten.
„Auf geht’s“, flüsterte Khadgar, als er die Könige abziehen sah. „Geht und sammelt die Söhne Lothars. Ich bete nur, dass es nicht schon zu spät ist.“
3
Die Axt schien zu singen, als sie mit viel Kraft geführt wurde. Die Klinge fing das Licht ein und glitzerte, als dürste sie nach Blut. Der Kämpfer, der sie bewegte, lachte wie wahnsinnig, öffnete seinen schwarz tätowierten Mund fast unmöglich weit und stieß den Schrei aus, der ihm seinen Namen eingebracht hatte. Das lange, schwarze Haar wehte im Wind, die roten Augen glühten, während er den eingebildeten Feind immer wieder aufschlitzte und seine Bewegungen perfektionierte.
In einem echten Gefecht wäre der Gegner jetzt Hackfleisch gewesen. Grom Höllschrei grunzte und wirbelte herum – eine Demonstration purer Kraft, verstärkt durch Können.