Er würde eher sterben, als zuzugeben, dass er von seiner eigenen Kraft überrascht worden war.
Es war so leicht gewesen – und so machtvoll.
Das Resultat war mehr als beeindruckend und fühlte sich... gut an.
„Wir haben ein Viertel unserer Leute eingebüßt“, berichtete Kilrogg etwas später. Er trat neben Ner’zhul, der an einen Baum gelehnt wartete. „Diese Zwerge wissen, wie man schnell und effektiv angreift. Und sie nutzten die Bäume zu ihrem Vorteil.“
Ner’zhul konnte den widerwilligen Respekt im Tonfall des alternden Häuptlings hören. Kilrogg war viel zu sehr Stratege, als dass er eine gute Taktik nicht zu würdigen gewusst hätte. Selbst wenn es die des Gegners war.
Blutschatten trat zu ihnen. „Der Rest ihrer Armee nähert sich uns noch immer schnell“, bestätigte er. „Sie haben die Zwerge offensichtlich vorausgeschickt, um uns zu verlangsamen.“
Der Todesritter bleckte die Zähne und sah zu dem Gefangenen, der zu Ner’zhuls Füßen lag. Der Zwerg hatte mehrere Male gestöhnt, war aber bislang noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen.
„Wie weit hinter uns sind sie?“, wollte Ner’zhul wissen.
„Immer noch einen Tag, vielleicht zwei. Aber in unserem derzeitigen Zustand kommen wir nicht gegen sie an.“
Ner’zhul nickte. „Dann bleibt uns nur noch eine Möglichkeit“, stellte er fest. „Wir müssen nach Auchindoun.“
Kilrogg erschrak, seine Augen weiteten sich, obwohl er gewusst haben musste, dass es so kommen würde.
„N-nein!“, stammelte er. „Das geht nicht! Nicht dorthin!“
„Sei keine Memme!“, zog ihn Blutschatten höhnisch auf. „Wir haben keine andere Wahl. Nur so können wir darauf hoffen, die Allianzarmee zu überleben und den Schwarzen Tempel zu erreichen!“
Aber der einäugige Orc schüttelte entschlossen den Kopf. „Es muss noch einen anderen Weg geben...“ Er fasste Ner’zhul und Blutauge am Arm. „Es muss einen anderen Weg geben! Wir können nicht nach Auch... ihr wisst schon... gehen! Das wäre unser aller Ende!“
„Falsch“, antwortete Ner’zhul kalt, streifte die Berührung ab und schaute den Orc an. „Auchindoun ist eine unwirtliche Ruine und eine Erinnerung an einen hässlichen Abschnitt unserer Vergangenheit. Mehr nicht.“
Natürlich war es mehr. Viel mehr. Auchindoun war schon gut über hundert Sommer alt gewesen, als Ner’zhul noch ein Säugling gewesen war. Es hatte den Draenei gehört und lag, wie alles andere auch, tief in den Wäldern von Terokkar verborgen! Der alte Schamane hatte ihnen erzählt, dass es sich um einen heiligen Ort handelte, an dem die Draenei ihre Toten begruben und wo sie hingingen, um mit den Geistern in Verbindung zu treten. Ähnlich, wie die Orc-Schamanen mit ihren Ahnen kommunizierten.
Als Jugendliche waren Ner’zhul und seine Klansbrüder durch den Wald geschlichen, um den merkwürdigen Ort zu erkunden und hatten sich die gemeißelte Steinkuppel angesehen. Sie hatten einander herausgefordert, dort hineinzugehen, durch die Tore zu laufen, die in den hohen Steinblock gehauen waren, etwas da drinnen zu berühren und dann zurückzukommen.
Keiner von ihnen hatte sich getraut. Ner’zhul war am weitesten vorgedrungen. Er war zum Eingang geschlichen und hatte seine Hände über den Stein bewegt, der die Tore bildete. Aber weiter war er nicht gegangen. Nach Meinung seines Klan-Schamanen sollte das auch niemand tun. „Die toten Draenei beschützen die Ihren“, hatte er gesagt.
Dann war der Krieg gekommen. Die Orcs hatten sich zusammengeschlossen und ihre Klanrivalitäten beigelegt. Gemeinsam hatten sie die friedlichen Draenei angegriffen und abgeschlachtet. Ner’zhul versuchte, nicht an seine Rolle in dem Plan oder an die schreckliche Kreatur zu denken, die den Befehl gegeben hatte, diese ruhigen, harmlosen Nachbarn zu vernichten. Und als Ner’zhul sich geweigert hatte, sein Volk der Kontrolle dieses Fremden zu unterwerfen, als er dem grandiosen Plan des Wesens Widerstand geleistet hatte, wurde er ausgetauscht.
Gul’dan hatte sich freiwillig dem Fremden hingegeben, er unterwarf sich dem Willen der Kreatur und erhielt dafür immense Kraft. Gul’dan hatte die Horde mit dem Blutrausch infiziert, der Orcs in jene Wilden verwandelt hatte, die sie heute waren. Dann hatten sie die Draenei und deren ganze Kultur vernichtet. Nur ein paar wenige waren entkommen. Sie waren nach Auchindoun geflohen, darauf hoffend, dass die Orcs sie nicht dorthin verfolgen würden.
Sie hatten sich getäuscht. Gul’dans Machthunger war unstillbar, und sein neuer Meister hatte ihm unglaubliche Macht versprochen, wenn er die Draenei vernichtete. Deshalb hatte Gul’dan Späher ausgesandt – eine Gruppe von Zauberern aus dem Schattenrat. Dem Schattenrat, der Schwarzfaust, den Kriegshäuptling der Horde, insgeheim kontrollierte. Sie waren nach Auchindoun gegangen, siegesgewiss, und hatten sich bereits die Kraft ausgemalt, die ihnen mögliche Beute-Artefakte verleihen würden.
Doch etwas war schiefgegangen. Sie hatten tatsächlich ein Artefakt gefunden. Aber es enthielt ein merkwürdiges Wesen. Ob das Wesen absichtlich oder infolge sorgloser Überheblichkeit befreit worden war, wusste man nicht. Doch die Flucht des Wesens hatte Auchindoun erschüttert. Die Steinkuppel und der große Tempel darin waren eingestürzt. Die zahllosen Tunnel darunter, die die toten Draenei beherbergten, explodierten. Die Detonationen hatten den Wald im Umkreis einer Meile zerstört und den Boden mit den Knochen jener Draenei übersät, die einst in den Katakomben von Auchindoun gelegen hatten.
Nur ein paar der Kundschafter überlebten und entkamen, um Gul’dan zu berichten, dass die Totenstadt zerstört worden war. Immerhin hatte sicherlich auch kein Draenei überlebt, und so war niemand jemals dorthin zurückgekehrt. Die Orcs hatten die Knochenwüste, wie der Bereich um Auchindoun fortan genannt wurde, gemieden.
Bis heute.
„Wir haben keine andere Wahl“, wiederholte sich Ner’zhul und sah zuerst Kilrogg und dann Blutschatten an. „Wir müssen dorthin. Einige der Tunnel existieren sicher noch, zumindest teilweise, und darin können wir uns vielleicht verteidigen. Ohne einen solchen Schutz werden die Allianzstreitkräfte uns alle töten – und unser Ziel mit uns.“
Kilrogg plapperte etwas Unverständliches, und Blutschatten sah ihn verächtlich an, seine roten Augen zogen sich zusammen. „Ner’zhul hat recht. Wir haben keine andere Wahl. Aber wir müssen mit Bedacht vorgehen. Ich will nichts aufwecken, was wir nicht besiegen können.“
„Dann ist es beschlossen“, sagte Ner’zhul. „Oder nicht, Kilrogg? Ich würde dich nur ungern zurücklassen.“
Der alte Häuptling schluckte schwer und senkte den Kopf. „Ner’zhul, du weißt, dass ich vor nichts Lebendigem Angst habe. Vor nichts, das ich bekämpfen und in Stücke hauen kann. Aber dieser Ort...“ Er seufzte schwer. „Der Klan des blutenden Auges geht dorthin, wohin uns Ner’zhul führt.“
„Gut. Gemeinsam sind wir für alles gewappnet, egal, was in diesen Mauern auch auf uns lauern mag. Nun sammelt eure Krieger und Todesritter“, befahl er den beiden Kommandeuren. „Wir müssen die Knochenwüste so schnell wie möglich erreichen.“
Kilrogg nickte und ging. Blutschatten schaute ihm nach, dann salutierte er vor Ner’zhul und folgte dem anderen. Seine Todesritter scharten sich schon nach wenigen Schritten um ihn.
Ner’zhul wandte sich ebenfalls ab. Seine Hände berührten seinen Beutel und fühlten die darin befindlichen Artefakte. Trotz seiner starken Worte fragte er sich, was sie wohl in Auchindoun finden würden. Waren die toten Draenei immer noch dort? Würden sie ihn für die Handlungen seines ehemaligen Schülers verantwortlich machen? Oder würden sie akzeptieren, dass Gul’dan auch ihn, Ner’zhul, verraten hatte?
Würde sich die merkwürdige Ruine als Schutz vor der Allianzarmee erweisen – oder lauerten dort am Ende gar noch größere Gefahren auf die Orcs?
Aber ihm fiel keine bessere Lösung ein, und so mussten sie es herausfinden. Ner’zhul hoffte nur, dass er keinen furchtbaren Fehler beging.