In einem größeren Kreis, der den kleineren umgab, standen mehrere von Blutschattens Todesrittern. Es waren die wenigen Hexenmeister, die Schicksalshammers Zorn überlebt hatten, und eine Handvoll seiner eigenen Schattenmond-Orcs. Die letzte Gruppe stand im dritten und größten Kreis und blickte mit erhobenen Waffen nach außen. Sie waren zum Schutz da, während die anderen Ner’zhul dabei halfen, dem Planeten Energie zu entziehen und das Ritual zu beenden.
Sie zauberten bereits den ganzen Tag, seit die Konjunktion am Himmel stattfand. Und nur die Energie, die ihn durchfloss, bewahrte den Schamanen davor, vor Müdigkeit oder Hunger zusammenzubrechen. Aber seine Haut prickelte und das Haar tanzte, als würde es von einem unsichtbaren Wind bewegt.
Sie näherten sich dem Ende des Spruchs. Die Allianz rannte schon seit Stunden gegen die dicken Mauern des Schwarzen Tempels an, und die Verteidigungslinien konnten jeden Moment fallen. Doch die Menschen würden zu spät kommen, dachte Ner’zhul triumphierend. Er erhob das Zepter des Sargeras mit der rechten Hand und mit der linken das Auge von Dalaran. Beides leuchtete hell, ein inneres Licht strömte aus dem Kopf des Zepters und tanzte von Facette zu Facette im violetten Zentrum des Auges.
Die beiden Artefakte fokussierten die Energielinien und formten sie fast zu physischer Gestalt. Plötzlich durchströmte eine ungekannte Stärke Ner’zhuls Glieder. Sein ganzer Körper erzitterte, und er wusste, dass er nicht mehr auf dem Steindach stand, sondern darüber schwebte. Die Energie hob ihn von der Oberfläche weg.
„Jetzt!“, rief er, berührte die Spitze des Zepters und das Zentrum des Auges und spürte, wie die restliche Energie durch seine Arme und Beine und in Herz und Geist floss.
Er wusste, dass seine Augen hell leuchteten, heller als die Sonne, und er konnte die magischen Linien sehen, die über die Welt verliefen. Die Energiestränge bahnten sich ihren Weg zwischen den Welten und dem Rest des Kosmos.
Er konnte die energetischen Barrieren um Draenor spüren und sie so leicht zerteilen wie einen Bogen Pergament.
Die Welt wurde erschüttert. Der Boden bebte, der Himmel grollte. Ein fürchterlich schabendes Geräusch erklang aus dem Bauch der Erde und traf auf ein ohrenbetäubendes Kreischen, das von über den Wolken herabdrang.
Draenor brüllte vor Schmerz. Die anderen Teilnehmer schwankten, als der Tempel sich bewegte. Viele fielen auf die Knie. Auch Ner’zhul taumelte, schaffte es aber stehenzubleiben, unterstützt von der Kraft, die ihn durchströmte.
Er konnte spüren, wie die Magie über die Realität hinweg wie eine Angelschnur in die Leere reichte; Draenors Energie verlieh ihr genügend Antrieb, und sie verhakte sich in etwas Festem.
Einer anderen Welt.
Die Schnur spannte sich, ein scharfer Ton erklang, durchlief Ner’zhul, und ein korrespondierender Klang kam durch die Schnur zurück... und riss ein Loch in ihre Realität.
Ein Spalt. Es war ein Spalt!
Ner’zhul erkannte das Gefühl. Die rohe Kraft von Luft, Erde und Natur, der Verbindung, die diese mit der nächsten Welt verknüpfte. Er lächelte und schloss die Augen. Gierig trank er das berauschende Gefühl des Erfolges.
Er hatte es geschafft! Er hatte einen Spalt geöffnet!
Und nicht nur einen. Er spürte, dass sich weitere Risse auftaten – überall auf Draenor. Wie kleine Blasen, die aus dem Meer aufstiegen und zerplatzten, wenn sie an die Oberfläche kamen. Wie Blitzeinschläge in einem Sturm, der den ganzen Planeten überzog. Jeder Spalt brannte in seinem Geist wie ein Vulkan.
Er konnte Kundschafter zu ihnen schicken. Die würden ihm von den neu entdeckten Welten berichten. Dann würde er jenen Ort auswählen, der dem alten Draenor am ähnlichsten war, und die Horde dorthin führen. Und danach vielleicht zu einer weiteren Welt... und noch einer... bis sein Volk so viele Welten in Besitz genommen hatte, wie es nur wollte. So viele, wie es leicht halten konnte. Bis jeder Klan seinen eigenen Planeten besaß.
Dann würde niemand sie mehr aufhalten können.
Obris, eine der Wachen, fragte: „Ist das unsere neue Welt?“
Tatsächlich sah die Landschaft, die sie durch den wellenförmigen Spalt erkennen konnten, nicht sehr einladend aus. Viel konnte man nicht sehen. Es reichte aber aus, um Ner’zhul zu beunruhigen.
Etwas flatterte, ragte auf und war dann verschwunden. Ein fahles Licht zuckte, dann verschwand es.
„Das sieht nicht wie ein Ort aus, den...“
„Ruhe!“, schrie Ner’zhul und wirbelte zu Obris herum. „Wir...“
In diesem Moment der Unaufmerksamkeit zitterte das Auge. Ner’zhul furchte die Stirn und umschloss das Artefakt fester. Es schien sich wie ein Fisch zu winden, und bevor er erkannte, was geschah, sprang es aus seiner Hand, glitt durch die Luft...
... und landete in der Hand eines großen, breitschultrigen Mannes mit weißem Haar und violettem Gewand. Der Stab in seiner Hand leuchtete machtvoll, und seine Augen blitzten.
Ein Menschenzauberer. Er hatte Ner’zhul den Sieg buchstäblich aus der Hand genommen.
Hinter dem Magier stand ein Mann in voller Rüstung, der einen Hammer trug und blendend weißes Licht ausstrahlte. Ner’zhul erkannte, dass dieser Mann nicht nur ein Krieger war, sondern so etwas ähnliches wie ein Schamane.
Die Elfe neben ihm besaß keine magischen Fähigkeiten, aber ihr Gesicht zeigte gerechten Zorn. Sie hatte einen Pfeil aufgelegt und zielte damit auf ihn.
Ner’zhul erzitterte. Wie konnten sie es wagen? Wie konnten sie es wagen, seinen Moment des absoluten Ruhms zu unterbrechen? Ner’zhul erkannte, dass er keine Angst oder Sorge verspürte, nur wilde, unglaubliche Wut.
„Das Auge wird dir nichts nützen, wenn du Staub bist!“, schrie er und ließ sich von seinem Zorn leiten. Er tobte in ihm, war rein, heiß und tödlich. Mit einem Schrei erhob er seine Hände. Der Stein gehorchte und brach unter den Füßen der Eindringlinge weg.
Gerade noch rechtzeitig sprangen die Eindringlinge der Allianz zur Seite, rollten sich ab und brachten ihre Waffen in Anschlag. Aber Ner’zhul war noch nicht fertig. Noch lange nicht. Er hatte gerade erst angefangen.
Er hob die zerborstenen Felsstücke an und lenkte sie auf die Allianzleute zu. Wind und Regen umpeitschten sie. Er ließ sie hilflos in der Luft schweben, bevor er gnadenlos die Steine auf sie fallen ließ. Ner’zhul erfreute sich daran, die Menschen leiden zu sehen. Mit Mühe wandte er sich ab und schrie: „Durch den Spalt! Sofort! Ruhm und eine neue Welt erwarten uns!“
Obris starrte ihn mit offenem Mund an. „Töte die Eindringlinge der Allianz und lass uns unsere Horde sammeln! Du kannst doch nicht ernsthaft nur ein paar wenigen die Flucht ermöglichen! Was ist mit unseren Brüdern, die jetzt gerade kämpfen? Grom und der Kriegshymnenklan befinden sich immer noch auf Azeroth. Frauen und Kinder sind überall verstreut. Wir können sie nicht zurücklassen! Das wäre feige...“
Plötzlich überkam Ner’zhul die Erkenntnis. Etwas hatte ihn klein gehalten. Erst jetzt... jetzt, fühlte er sich frei von Schuld, frei von der Schande, frei vom Bestreben, seinem Volk etwas Gutes zu tun.
Das, erkannte er, war die eigentliche Last gewesen. Er hatte einst den Tod als Teil des Zyklus akzeptiert, ihn dann gefürchtet, später erkannt, dass er selbst der Todesbringer war... und hatte all die schwere Bürde getragen.
Doch das galt ab sofort nicht mehr. Er war frei.
Er würdigte Obris nicht einmal einer Antwort. Ner’zhul streckte seine Hand aus. Blitze bildeten sich auf seiner Handfläche und zischten in einem funkensprühenden Bogen auf den Orc zu. Donnernd schlugen sie in Obris’ Brust ein und schleuderten ihn zurück. Er krachte gegen die Wand und glitt zu Boden. Ein rauchendes Loch klaffte in seiner Brust. Obris stand nicht wieder auf.