Ner’zhul hatte ein silberbeschlagenes Zepter in der Hand gehalten, als er verschwand. Wahrscheinlich war es das Zepter des Sargeras. Es war ohnehin besser, wenn so ein verfluchtes Artefakt weit weg von Azeroth war. Nur, wo war das verdammte Buch? Er musste die Aufgabe erfüllen, und zwar jetzt, bevor es für sie alle zu spät war.
Er streckte seine Sinne aus, es war jedoch zu viel Magie in der Luft, um irgendetwas klar lokalisieren zu können.
Das Buch könnte direkt vor meiner Nase liegen oder meilenweit entfernt. Verdammt!, dachte er frustriert.
Khadgar erspähte aus dem Augenwinkel eine schwache Bewegung. Er wirbelte herum, bereit, sich zu verteidigen.
Eine der Leichen hatte sich bewegt, wenn auch nur schwach. Der Körper war schlimm verkohlt, und Khadgar erkannte, dass es der Orc war, den Ner’zhul angegriffen hatte, bevor er durch das Portal ging. Derjenige, der Ner’zhul einen Feigling genannt hatte, weil er die anderen zurückließ.
Wieder war Khadgar froh, dass er den Ring dabeihatte, der ihn andere Sprachen verstehen ließ. Er senkte seine Hände.
Der Orc schnaufte und grunzte, offensichtlich hatte er große Schmerzen. Er griff nach etwas und hielt es Khadgar mit enormer Anstrengung entgegen. Es war ein großer, rechteckiger Gegenstand mit verzierten Metallecken.
Khadgar hielt den Atem an, als er erkannte, was es war.
Medivhs Buch.
„Ich bin... kein Schamane. Aber Obris ist schlau genug, um zu wissen... dass es dir nützlich sein wird.“
Khadgar zögerte. Der Orc war dem Tode geweiht, doch es konnte immer noch ein Trick sein. „Ja“, sagte er schließlich. „Und warum gibst du es mir dann? Ich bin dein Feind.“
„Du bist wenigstens ein ehrenhafter Feind“, knurrte Obris. „Ner’zhul hat uns verraten. Er hat die Horde neu wieder erstehen lassen und meinen Klan des lachenden Schädels hineingezwungen. Er versprach uns einen Neubeginn. Aber sobald...“, er hustete, „... sobald er Sicherheit fand, floh er. Er und seine Lieblinge... Der Rest von uns... bedeutete ihm nichts.“
Die Augen leuchteten ein letztes Mal. „Ich wäre sehr froh, wenn ich wüsste, dass meine letzte Tat die wäre, sich ihm zu widersetzen. Nimm es. Nimm es, verflucht seist du! Nimm es und lass ihn für seinen Verrat bezahlen!“
Khadgar ging auf den sterbenden Orc zu und löste sanft das Buch aus dessen geschwärzten, blutigen Händen. „Ich verspreche dir, Obris: Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ner’zhul aufzuhalten.“
Der Orc nickte, schloss die Augen und wurde ganz still – für immer.
Die Launen des Schicksals, überlegte Khadgar, löste schnell den Verschluss und öffnete das Buch. Er erinnerte sich daran, den schweren Folianten vor ein paar Jahren in Medivhs Bibliothek gesehen zu haben.
So viel war seitdem geschehen. Fast, als wäre ein ganzes Leben vergangen. Damals hatte er Angst vor dem Buch verspürt, die aber von seiner Neugierde übertrumpft worden war. Glücklicherweise hatten ihn die Schutzzauber davon abgehalten, das Werk zu öffnen. Sonst hätte ihn die darin wohnende Magie vernichtet.
Jetzt mied Khadgar sie mit Leichtigkeit und durchstöberte den Inhalt des Buches in wachsender Erregung. Wie er erwartet hatte, enthielten die Seiten Details darüber, wie Medivh und Gul’dan zusammen am Spalt gearbeitet hatten. Mit diesen Details und der immer noch vorhandenen Kraft in Gul’dans Schädel war Khadgar zuversichtlich, das Dunkle Portal endgültig schließen zu können.
Aber würde er es noch rechtzeitig schaffen?
Flügelschlag ließ ihn aufblicken. Mehrere Greife kreisten über dem Dach, ihre Schwingen waren ausgebreitet, als sie landeten. Khadgar sah Kurdran und einen anderen Wildhammerzwerg, die dem Magier Zeichen gaben. Er nickte, stopfte das Buch in einen Beutel, ergriff die ausgestreckte Hand des Zwergs und schwang sich auf den Greif.
„Wo sind Alleria und Turalyon?“, rief Khadgar Kurdran zu.
„Sie reden mit den Soldaten“, antwortete der Zwerg.
„Sie müssen sich aber beeilen“, sagte Khadgar und schüttelte den Kopf. „Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Auf zum Dunklen Portal!“
Der Greif kreischte, als sein Reiter die Zügel anzog. Dann erhob er sich, schlug mit den Flügeln gegen den Wind und meisterte das Gewicht zweier Passagiere.
Khadgar sah, wie der Schwarze Tempel unter ihm verschwand und schloss die Augen. Sein Haupt- und Barthaar wehten hinter ihm her. Er hielt den Beutel fest umschlungen.
Mithilfe der Greife würden sie das Portal binnen Minuten und nicht erst in Stunden oder Tagen erreichen.
Er hoffte nur, dass nicht schon alles zu spät war.
Alleria legte den Kopf an die Schulter ihres Geliebten, als sie auf dem Greif über dem Schwarzen Tempel schwebten. Sanft umschlang sie Turalyons Hüfte, um ihm moralischen Halt zu geben. Sie wusste, wie düster es in seinem Herzen aussah, angesichts dessen, was er tun musste. Aber sie wusste auch, dass er nicht kneifen würde.
„Söhne Lothars!“, rief Turalyon und hob seinen Hammer.
Alleria schaute weg, denn das Licht durchdrang die darüber liegenden Wolken und strahlte hell über das ganze Tal, vom Schwarzen Tempel bis zum Eingang, wo das Fort der Allianz lag. „Vor vielen Monaten kamen wir durch das Dunkle Portal, ohne zu wissen, was uns erwartete. Aber wir wussten, was unsere Aufgabe war: Wir mussten die Horde daran hindern, andere Welten zu erobern, so wie sie es bei unserem geliebten Azeroth tat... Doch wir versagten! Jetzt aber ist genau der Moment gekommen, für den wir gekämpft haben: Khadgar hat, was er braucht, um das Portal zu schließen. Aber dieser Welt droht das Chaos. Azeroth, unsere Heimat, ist erneut in großer Gefahr. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um Azeroth und unsere Familien, die wir zurückließen, zu retten.“
Er ließ seinen Blick über die Männer schweifen, und Alleria wusste, dass sich jedes Gesicht in sein Gedächtnis einbrannte.
„Ich werde Khadgar helfen, ihn beschützen, weil es sicherlich Widerstand geben wird“, fuhr Turalyon fort. „Ihr... müsst hier die Stellung halten. Ihr habt mich niemals enttäuscht. Ich weiß, meine Brüder, ihr werdet mich auch jetzt nicht enttäuschen.“ Seine Stimme brach.
Durch die Tränen in ihren eigenen Augen sah sie ihn weinen.
„Keiner von uns weiß, was passieren wird. Vielleicht überleben wir, finden heim, leben ein erfülltes Leben und erzählen unseren Enkeln Geschichten. Oder wir sterben hier auf dieser Welt. Wie das Schicksal entscheidet. Ein Schicksal, das, wie ich weiß, jeder von euch gern annehmen wird. Weil wir für unsere Welt, unsere Familien und unsere Ehre kämpfen. Wir kämpfen, damit andere in Freiheit leben können. Und wenn es irgendetwas auf dieser Welt oder einer anderen gibt, für das es sich zu sterben lohnt, dann ist es... die Freiheit der anderen!“
Alleria starrte ihn an. Seine Augen, die immer noch mit Tränen gefüllt waren, leuchteten jetzt in strahlend weißem Licht. Ehrfurcht durchfuhr sie.
So strahlend... Turalyon, mein Geliebter, du bist so strahlend.
„Söhne Lothars! Das Licht ist mit euch! Das war es immer und wird es immer sein. Für Azeroth!“
Sein Hammer leuchtete heller als der Tag, und viele der gefangen genommenen Orcs in der Nähe stürzten zu Boden und schrien, als seine Aura sich in ihre Augen fraß.
Turalyons Soldaten jedoch wurden durch das Leuchten gestärkt und jubelten, als der Greif aufstieg und Turalyon und Alleria hinter den Wildhammerzwergen zum Dunklen Portal brachte.
„Wenn ich könnte, würde ich bei ihnen bleiben“, murmelte er leise.
Sie küsste seinen Hals. „Das weiß ich, Geliebter. Ihre Herzen sind mit dem Licht erfüllt – so bist du stets bei ihnen.“
Rings um das Dunkle Portal herrschte das Chaos. Turalyon hatte seinen Truppen die ungeschminkte Wahrheit gesagt. Khadgar musste verteidigt werden. Er hatte nur noch nicht erkannt, wie sehr er und seine Freunde den Zauberer schützen mussten. Danath, Khadgar, Kurdran und mehrere andere waren vor ihnen angekommen und bahnten sich bereits kämpfend den Weg zum Portal. Es schien, als hätten die Orcs sich hier gesammelt. Ner’zhuls plötzliches Verschwinden hatte mehrere Klans auf Draenor zurückgelassen, und sie alle hatten begriffen: Das Dunkle Portal war der einzige stabile Spalt – und der einzige, der auf eine Welt führte, von der sie wussten, dass sie bewohnbar war.