„Du!“, rief der Hexer, „Halbblut! Du bist nicht wirklich von der Horde. Kein echter Orc. Aber du wirst reichen. Komm her!“
Rexxar schaute den Zauberer an, zu überrascht um zu antworten. Dieser Hexenmeister beleidigte ihn und erwartete dann auch noch Hilfe? War er komplett verrückt geworden?
Doch als der Zauberer näherkam, sah Rexxar das grüne Schimmern, das seine Hände umgab. Er atmete schnell ein, weil er das seltene Gefühl von Angst verspürte.
Nein, der Zauberer wollte keine Hilfe, keine herkömmliche jedenfalls – er wollte Rexxars Lebenskraft. Hexenmeister konnten anderen die Lebensenergie absaugen und sich selbst heilen. Dieser Prozess forderte einen hohen Preis. Eine schwere Wunde konnte einen gesunden Orc töten.
Und die Wunde dieses Hexers war tödlich.
Rexxar versuchte zurückzuweichen, aber er war eingezwängt. Die Orcs und Menschen hinter ihm standen zu dicht zusammen, als dass er sich hätte bewegen können. Er knurrte und hob beide Äxte. Eher würde er den Zauberer umbringen, als dass er so enden wollte...
Aber der Orc vollführte eine Geste, und plötzlich fiel Rexxar auf die Knie. Unglaublicher Schmerz durchfuhr ihn.
„Wie? Gar nicht mehr so selbstsicher?“, verspottete der Hexer ihn leise und trat nah genug an ihn heran, dass sein Atem über Rexxars Haut strich.
Rexxar krümmte sich, wand sich vor Schmerz und konnte sich nicht wehren.
„Tut es weh? Keine Angst. Bald sind die Schmerzen fort.“ Er hob seine Hände absichtlich langsam an, um den Moment auszukosten. Und dann sah Rexxar, wie sich die grün leuchtenden Hände näherten. Er meinte bereits zu spüren, wie ihm die Energie entzogen wurde. Müdigkeit überkam ihn.
Ein wildes Knurren drang durch den Nebel der Folter, und ein großer, schwarzer Schatten krachte in den Zauberer.
„Harata, nein!“ Weil der Zauberer abgelenkt war, brach der Bann, und Rexxar konnte sich wieder bewegen. Aber es war zu spät. Sein ergebener Wolfsgefährte hatte den Hexer weggeschubst, doch dabei hatte dessen Hand den dicken Pelz des Wolfes berührt. Rexxar schaute erschrocken auf, als sein Freund vor seinen Augen verging. Der starke Wolf sank binnen Sekunden in sich zusammen. Sein Körper wurde zu Staub, der vom Wind verweht wurde.
„Ah, jetzt geht es mir besser“, sagte der Zauberer, stand auf und wischte sich über sein Gewand. Der Blutfleck blieb, er bewegte sich jetzt allerdings wieder normal. „Dein Tier hat dir das Leben gerettet“, wandte er sich mit einem gemeinen Grinsen an Rexxar.
„Ja, das hat es“, antwortete Rexxar leise und wirbelte mit beiden Äxten. „Aber wer rettet dich jetzt?“
Er schlug aus dem Handgelenk zu. Die Äxte drangen tief in die Brust des Hexenmeisters ein. Rexxar hatte viel seiner bemerkenswerten Stärke in den Schlag gelegt, und der Zauberer fiel durch die Wucht des Schlages auf die Knie. Die Äxte schnitten durch ihn hindurch, und er landete auf dem blutdurchtränkten Boden.
Rexxar sah auf den Leichnam, keuchte, dann blickte er zu der Stelle, wo sein Wolf gestorben war. Die Wut durchdrang ihn noch und dröhnte in seinen Ohren. Er kniete sich hin und legte seine vom Hexenmeisterblut benetzte Hand auf den Staub.
„Du bist gerächt, mein Freund“, sagte er leise, „obwohl es mir lieber wäre, du wärst noch bei mir.“ Er atmete tief durch, stand auf, bezähmte seine Trauer und seine Wut und rief nach dem Anführer des Kriegshymnenklans.
Grom sah auf, bemerkte Rexxar und winkte dem Halb-Orc mit der Axt zu. Deshalb hatte Rexxar den Anführer des Kriegshymnenklans immer gemocht, trotz all seiner Wildheit und Gewaltbereitschaft. Grom hatte ihm immer denselben Respekt gezollt wie jedem anderen Krieger. Dafür hatte er auch stets Grom respektiert, aber jetzt waren Erfolge wichtiger als Manieren.
„Das Portal!“, brüllte Rexxar und zeigte darauf. „Da stimmt etwas nicht!“
Grom schaute genau in dem Moment auf das Portal, als eine Handvoll Orcs hindurchwankte. Zuerst erhob sich Rexxars Herz, er dachte, dass die Horde ihnen Hilfe geschickt hatte. Aber dann erkannte er, dass diese Orcs bereits geschlagen waren und bluteten. Und dass sie eher rannten als marschierten. Sie liefen, als würden sie vor etwas fliehen. Etwas auf Draenor.
„Lauft!“, rief einer von ihnen, als er mit einem Soldaten der Allianz zusammenstieß. Der Soldat fiel hin, doch der Orc rannte weiter, ohne sich um sein hilfloses Opfer zu kümmern. „Lauft!“
„Was geht da vor?“, fragte Grom, und Rexxar zuckte die Achseln, nicht weniger verwirrt. Sie starrten beide auf das Dunkle Portal, als die dortige Szenerie sich änderte. Sie wandelte sich von einer verrückt gewordenen Landschaft zu einem Mahlstrom wirbelnder Farben und dann zu völliger Dunkelheit.
Danach verschwand sie.
Einen Herzschlag später begann der steinerne Rahmen zusammenzubrechen, der das Dunkle Portal, den Spalt zwischen den Welten, eingerahmt hatte.
Das Geräusch steigerte sich zu einem Crescendo, und dann kollabierte das Zentrum. Die beiden massiven Hälften brachen donnernd zusammen, und eine Wolke aus Staub und Steinsplittern stieg auf. Die Stützpfeiler fielen als Nächstes, aus dem Gleichgewicht gebracht von dem ursprünglichen Aufprall.
Rexxar zog den Kopf ein und legte den Stoff seiner Kapuze vor den Mund, um den Staub nicht einatmen zu müssen. Orcs und Menschen verteilten sich und versuchten dem Chaos und dem Geröll zu entkommen.
„Nein!“, schrie jemand. Stöhnen und Schreie erfüllten die Luft.
Rexxar starrte auf die Überreste, die einst das Tor zwischen den Welten gebildet hatten. Das Portal – vernichtet? Bedeutete das, dass sie niemals mehr heimkommen würden? Was würde jetzt aus ihnen werden?
Glücklicherweise bewahrte ein Orc kühlen Kopf. „Neu gruppieren!“, brüllte Grom und schlug Rexxar auf die Schulter. „Du sammelst jeden auf dieser Seite ein, ich auf der anderen. Wir treffen uns am Eingang des Tals!“
Rexxar wurde aus der Erstarrung gerissen, nickte und gehorchte. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, verzichtete Rexxar auf die schützende Vermummung. Er konnte immer noch die Panik spüren, drängte sie aber zurück, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Grom ihm zugewiesen hatte. Jeden Orc, den er sah, schickte er zum Taleingang, und entweder wegen seiner Größe oder wegen der beiden Äxte, die er trug – oder weil sie einfach auf Befehle warteten –, gehorchten die Orcs ohne jedes Widerwort.
Als Rexxar selbst am Taleingang ankam, war Grom ebenfalls zurück und mit ihnen alle Mitglieder der Horde auf Azeroth. Die meisten blickten so benommen, wie er sich fühlte.
„Grom! Das Portal ist verschwunden!“, stammelte einer von ihnen.
„Was sollen wir tun?“
„Ja. Das Portal ist verschwunden. Und die Allianz gruppiert sich neu“, verkündete Grom laut und wies in die Richtung, in der sich die Menschen neu formierten, vor den Überresten des ehemaligen Portals. „Sie glauben, dass wir leichte Beute sind. Sie glauben, wir wären ohne das Portal verloren und verängstigt. Aber sie irren sich. Wir sind die Horde!“
Seine glühenden roten Augen schauten über die Menge vor ihm, und er hob Blutdurst. „Wir gehen nach Norden, zurück nach Steinard. Wir kriegen heraus, was mit unserer Welt geschehen ist. Wir versorgen unsere Verwundeten. Wir überleben! Dann formieren wir uns neu, damit wir den Menschen zu unseren Bedingungen, nicht zu ihren, entgegentreten.“ Er knurrte. „Die Allianz nähert sich. Wird sie uns besiegen?“
„Nein!“, erklang es aus den Reihen der Orcs.
Rexxar hielt sie insgeheim für die letzten Überreste der orcischen Horde.
Grom grinste, warf seinen Kopf zurück, öffnete seinen schwarz tätowierten Mund und stieß einen Kriegsruf aus, bevor er losstürmte.
Seine Leute folgten ihm.
Dieser da war der Richtige! Grom ging zu dem Orc, der eingemummt neben dem Feuer saß, als sie in dieser Nacht in Steinard kampierten. Er war nicht staubig oder blutig, und Grom kannte alle seine Krieger. Er legte seine Hände auf die Schultern des Orcs und zog ihn zu sich heran. Grom ragte über dem Orc auf, dessen Augen vor Überraschung geweitet waren.