Hinter Grom stand Rexxar.
Mühelos hob Grom den Orc an und hielt ihn in der Luft. Verzweifelt zappelte der Orc mit den Beinen. Der Häuptling des Kriegshymnenklans beugte sich vor.
„Also“, sagte Grom leise, und ein finsterer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Was im Namen der Ahnen ist dort drüben passiert?“
Der Orc zitterte und erzählte alles, was er wusste. Seine Artgenossen hörten ihm gebannt zu. Das einzige Geräusch war die Stimme des Orcs, das Knacken des Feuers und die allgegenwärtigen Geräusche des nächtlichen Sumpfs.
Als er endete, schwiegen alle. Sie starrten ihn nur an, zu schockiert, um etwas zu sagen.
Schließlich, nach mehreren Minuten, schüttelte sich Grom. „So“, knurrte er und sah die anderen einschüchternd an, bis sie ihre Blicke abwandten. Nervös scharrten sie mit den Füßen. „Dann bereiten wir uns vor.“
„Vorbereiten?“, schrie Rexxar.
Grom sah den Krieger an, der halb Orc und halb Oger war.
„Worauf vorbereiten, Höllschrei? Unsere Welt ist tot. Unsere Leute sind tot. Und wir sind für immer hier gefangen. Ganz auf uns allein gestellt. Auf was im Namen der Ahnen sollten wir uns also vorbereiten?“ Rexxars Griff um die Axt war so fest, dass Grom glaubte, der Schaft könnte brechen.
„Wir bereiten uns auf die Rache für die Toten vor!“, knurrte Grom. Das Bild von Garrosh stand wieder vor seinem geistigen Auge. Sein Sohn und Erbe. Mein Junge, dachte er, mein Junge, tot wie der Rest.
„Wir sind alles, was übrig geblieben ist!“, erklärte er und fuhr die anderen Orcs an: „Wir sind jetzt die Horde! Wenn wir aufgeben, bedeutet das das Ende von allem, was wir kennen. Alles, was uns wichtig ist! Unser Volk wird nicht sterben, bevor wir uns nicht niederlegen und den Tod wie Feiglinge erwarten! Wenn Ner’zhuls Pläne...“
„Ner’zhul!“, brüllte Rexxar und beugte sich vor. Sein Gesicht war Grom jetzt ganz nah. „Der ist doch an allem schuld! Wer sonst könnte eine Welt zum Zusammenbruch bringen? Er hat uns alle verraten. Er versprach, Draenor zu retten, und hat es stattdessen zerstört!“
„Das wissen wir nicht!“, widersprach Grom. „Wir wussten, dass er mit extrem mächtiger Magie hantierte, um das Portal zu anderen Welten zu öffnen. Vielleicht ging etwas schief?“
„Oder es lief genau richtig... für ihn!“, fuhr Rexxar wütend fort. „Vielleicht hat er uns alle nur benutzt, unsere ganze Welt, um seine Ziele zu verwirklichen? Das hat Gul’dan doch gemacht, oder nicht?“
Viele der umstehenden Orcs grunzten oder murmelten ihre Zustimmung. Jeder wusste von Gul’dans Verrat und wie er die Orcs den Sieg im Zweiten Krieg gekostet hatte.
„Und wer hat Gul’dan ausgebildet?“, fuhr Rexxar fort. „Wer brachte ihm alles bei? Ner’zhul! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“
Das Murmeln wurde lauter und wütender. Grom wusste, dass er dieses Gespräch beenden musste, bevor sich die versammelten Krieger in einen wütenden Mob verwandelten.
„Begreift ihr denn nicht, dass das egal ist?“, begann er und stellte Rexxars Wut die eigene Ruhe entgegen. „Sollen wir unsere Entscheidung auf Gerüchten gründen lassen? Sollen wir uns nach dem verzehren, was hätte sein können, und uns darüber aufregen, was vielleicht passiert ist? Benimmt sich so die mächtige Horde?“ Er sah von Orc zu Orc und bezog sie in das Gespräch mit ein. Er war zufrieden, als das Murmeln erstarb und sie gespannt erwarteten, was er noch zu sagen hatte.
„Wir haben überlebt! Wir sind auf Azeroth, einer Welt voller Leben, Land und Schlachten. Wir können die Horde wieder aufbauen und die Welt erneut angreifen!“
Einige Orcs jubelten bei seiner Ansprache. Grom nutzte diese Stimmung zu seinem Vorteil und schwang Blutdurst über seinem Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Ja, die Allianz jagt uns“, rief er. „Und wir sind derzeit kein Gegner für sie. Aber eines Tages, und das wird schon bald sein, sind wir es wieder! Hier können wir uns ausruhen, erholen und planen. Von hier aus starten wir Angriffe, wie wir es bereits seit einigen Monden tun. Wir werden neu erstarken. Wir werden wieder die Jäger sein, und die Menschen werden vor Angst erzittern!“ Er hielt seine Axt immer noch über dem Kopf, senkte aber jetzt die Stimme, damit seine Worte fast schon schmeichelnd in die plötzliche Stille sinken konnten. „Und eines Tages werden wir, die Horde, uns gegen die Menschen erheben und uns rächen!“
Die Krieger jubelten und brüllten. Sie hoben ihre eigenen Waffen, und Grom nickte zufrieden. Sie standen alle hinter ihm. Alle waren wieder vereint.
Alle – bis auf einen.
„Du wurdest mehrfach betrogen, jedes Mal von einem anderen Orc, der die Führerschaft beanspruchte – und du beschreitest immer noch denselben Weg“, sagte Rexxar leise, obwohl seine Augen vor Wut brannten. „Du hast gar keinen Grund mehr zu kämpfen! Früher kämpften wir, um unser Volk zu schützen und diese Welt zu erobern. Aber unsere Leute sind fort! Wir brauchen diese Welt nicht mehr! Mit diesen paar Orcs kannst du leicht einen Ort finden, an dem uns die Menschen niemals aufspüren werden. Und das, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen!“
„Woher käme dann der Ruhm?“, rief ein anderer Orc.
Grom nickte. „Was ist dein Leben ohne Kampf?“, wollte er von Rexxar wissen. „Du bist ein Krieger, du verstehst uns! Kämpfen hält uns stark!“
„Vielleicht“, gestand das Halbblut ein. „Aber warum kämpfen, wenn es keinen Grund dafür gibt? Wenn es reiner Selbstzweck wäre? Wir müssen niemanden retten oder irgendetwas gewinnen, nicht einmal Ruhm. Diese Schlachten dienen nur dazu, den Blutrausch zu stillen, geboren aus der Liebe zur Gewalt. Und dessen bin ich überdrüssig. Ich will nicht länger daran teilhaben.“
„Feigling!“, rief jemand, und Rexxars Augen zogen sich zusammen, als er sich zur vollen Größe aufrichtete. Er brachte die Doppeläxte auf Schulterhöhe.
„Tritt vor und wiederhole das“, drohte er. „Tritt vor, wo ich dich deutlich sehen kann, und nenn mich noch einmal Feigling! Dann wirst du schon sehen, ob ich vor einem Kampf zurückschrecke!“
Keiner bewegte sich, und nach einer Sekunde schüttelte Rexxar den Kopf, ein Lächeln lag auf seinen markanten Zügen. „Ihr seid die Feiglinge“, verkündete er und spie die Worte aus. „Ihr seid zu ängstlich, um außerhalb der Lügen und Versprechungen zu leben, die euch gemacht wurden. Ihr habt keinen Mut und keine Ehre. Deshalb kann man euch nicht trauen. Von jetzt an traue ich nur noch den Tieren.“
Grom hatte gemischte Gefühle, als er den großen Krieger gehen sah. Wie konnte Rexxar es wagen, sie jetzt zu verlassen, wo sie unbedingt zusammenbleiben mussten? Andererseits, wer konnte es ihm verdenken? Er gehörte nicht einmal im eigentlichen Sinne der Horde an. Weil die Mok’Nathal nie den Schergrat verlassen wollten. Groms Wissen nach hatte nur Rexxar sich der Horde angeschlossen und im Ersten und Zweiten Krieg gekämpft. Und was hatte es ihm eingebracht? Er hatte seine Welt verloren, sein Volk und selbst seinen Begleiter, den Wolf. War es da ein Wunder, dass der Halb-Orc sich betrogen fühlte?
„Niemand verlässt die Horde“, rief jemand. „Wir sollten ihn an den Ohren zurückschleifen oder töten!“
„Er hat uns alle beleidigt“, bemerkte ein anderer. „Er sollte für diese Anmaßung sterben!“
„Wir brauchen seine Kraft“, konterte ein dritter. „Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren!“
„Genug!“, brüllte Grom und sah sie an. Die Zwischenrufer verstummten. „Lasst ihn ziehen“, befahl er. „Rexxar hat der Horde gut gedient. Lasst ihm nun seinen Frieden.“
„Und was ist mit uns?“, wollte einer der Krieger wissen. „Was machen wir jetzt?“
„Wir wissen, was zu tun ist“, antwortete Grom. „Diese Welt ist nun unsere Heimat. Lasst uns darin leben.“