Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie» es giebt in uns einen kategorischen Imperativ«, kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn:»was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, — und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!«— kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.
Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die» Natur«, auch gegen die» Vernunft«: das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, — des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! — einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt — »um einer Thorheit willen«, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, — »aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze«, wie die Anarchisten sagen, die sich damit» frei«, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der» Tyrannei solcher Willkür-Gesetze «entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies» Natur «und» natürlich «sei — und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein» natürlichster «Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der» Inspiration«, — und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges —). Das Wesentliche,»im Himmel und auf Erden«, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, — irgend etwas Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen, — all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich» die Natur«, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen — heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der» Etwas beweisen will«—, dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse» zu Ehren Gottes «und» zum Heil der Seele«: — diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die» Natur «in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, — welche die Verengerung der Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt.»Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst«— dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder» kategorisch «ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das» sonst«—), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier» Mensch«, an den Menschen.
Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird: — als eine Art klug erfundenen, klug eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit —). Es muss Fasten von vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. — Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst unter dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat.
Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war.»Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn notwendig — gut.«— Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel, der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und eigentlich urtheilt» es ist dumm, schlecht zu handeln«; während er» gut «mit» nützlich und angenehm «ohne Weiteres als identisch nimmt. Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre gehn. — Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst — , er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in's Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht πρυαδε Πλατων οπιθεν τε μεσση τε Χιμαιρα.
Das alte theologische Problem von» Glauben «und» Wissen«— oder, deutlicher, von Instinkt und Vernunft — also die Frage, ob in Hinsicht auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem» Warum?«, als nach Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will, — es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes — dem eines überlegenen Dialektikers — zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und Geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum Recht verhelfen, — man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Falschheit jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen Urtheile durchschaut. — Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft — der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! — sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf» Gott«; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn, — das heisst, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen,»der Glaube«, oder wie ich es nenne,»die Heerde «gesiegt. Man müsse denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflächlich.