Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und Sklaven-Moral; — ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander — sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde, — oder unter den Beherrschten, den Sklaven und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff gut- bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz» gut «und» schlecht «so viel bedeutet wie» vornehm «und» verächtlich«: — der Gegensatz» gut «und» böse «ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner: — es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist.»Wir Wahrhaftigen«— so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen. Es liegt auf der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen gelegt worden sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn Moral-Historiker von Fragen den Ausgang nehmen wie» warum ist die mitleidige Handlung gelobt worden?«Die vornehme Art Mensch fühlt sich als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt» was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich«, sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: — auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Härten hat.»Ein hartes Herz legte Wotan mir in die Brust «heisst es in einer alten skandinavischen Saga: so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum Mitleiden gemacht zu sein: weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt» wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart«. Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder im Handeln für Andere oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht; der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine Grundfeindschaft und Ironie gegen» Selbstlosigkeit «gehört eben so bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem» warmen Herzen«. — Die Mächtigen sind es, welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfindung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen — das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht — , der Glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn umgekehrt die Menschen der» modernen Ideen «beinahe instinktiv an den» Fortschritt «und die» Zukunft «glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme Herkunft dieser» Ideen«. Am meisten ist aber eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten habe; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder» wie es das Herz will «handeln dürfe und jedenfalls» jenseits von Gut und Böse«—: hierhin mag Mitleiden und dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit und langer Rache — beides nur innerhalb seines Gleichen — , die Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, — im Grunde, um gut freund sein zu können): Alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral der» modernen Ideen «ist und deshalb heute schwer nachzufühlen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. — Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit des Misstrauens gegen alles» Gute«, was dort geehrt wird — , er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren — , denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes» gut «und «böse«: — in's Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der Sklaven-Moral erregt also der» Böse «Furcht; nach der Herren Moral ist es gerade der» Gute«, der Furcht erregt und erregen will, während der» schlechte «Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, zuletzt nun auch an den» Guten «dieser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt — sie mag leicht und wohlwollend sein — , weil der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der ungefährliche Mensch sein muss: er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bonhomme. überall, wo die Sklaven-Moral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte» gut «und» dumm «einander anzunähern. — Ein letzter Grundunterschied: das Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und die Feinheiten des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und — Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und Werthungsweise ist. — Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die Liebe als Passion — es ist unsre europäische Spezialität — schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des» gai saber«, denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt. —
Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben — und also auch nicht» verdienen«—, und die doch hinterdrein an diese gute Meinung selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen:»ich kann mich über meinen Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, — aber das ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, Das, was» Demuth«, auch Bescheidenheit «genannt wird). «Oder auch:»ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt, vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, — aber das ist Alles nicht Eitelkeit. «Der vornehme Mensch muss es sich erst mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt: — gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich dann derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer» guten «Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und von sich» gut zu denken«, mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und gründlicher einverleibten Hang gegen sich, — und im Phänomene der» Eitelkeit «wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet: denn er unterwirft sich beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. — Es ist» der Sklave «im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven — und wie viel» Sklave «ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig! welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen hätte. — Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.