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Wahrscheinlich wollte er sie und Larry vernichten, aber Noelle kannte besser als jeder andere die subtilen Gedankengänge von Demiris. Es war also ebenfalls möglich, dass er plante, nur einen von ihnen beiden zu vernichten und den anderen leben und leiden zu lassen. Wenn Demiris dafür sorgte, dass sie beide hingerichtet wurden, hätte er zwar seine Rache, aber es wäre zu schnell vorüber – es würde nichts bleiben, was er auskosten konnte. Noelle hatte sorgfältig jede Möglichkeit durchdacht, keine denkbare Variante übergangen, und ihr schien, dass Constantin Demiris es so arrangieren könnte, dass Larry starb und sie am Leben blieb, entweder im Gefängnis oder in seiner Gewalt, weil das die sicherste Methode war, seine Rache bis ins Unendliche zu verlängern. Zuerst würde Noelle die Pein erleiden, den Mann zu verlieren, den sie liebte, und dann würde sie alles das zu ertragen haben, was Demiris an ausgesuchten Qualen für ihre Zukunft plante. Ein Teil der Befriedigung, die Demiris aus seiner Rache zöge, würde darin bestehen, es Noelle vorher zu sagen, damit sie die Verzweiflung in vollem Umfang durchlebte.

Und deshalb überraschte es Noelle nicht, als der Gefängnisdirektor in ihrer Zelle erschien, um ihr Demiris' Besuch anzukündigen.

Noelle war zuerst da. Sie war in das Privatbüro des Gefängnisdirektors geführt worden, wo man sie diskret mit einem Make-up-Koffer, den ihre Zofe gebracht hatte, allein ließ, damit sie sich auf den Besuch von Demiris vorbereiten konnte.

Noelle ignorierte die Kosmetika nebst Kamm und Bürste, die auf dem Schreibtisch lagen, sondern ging zum Fenster und sah hinaus. Es war der erste Blick in die Außenwelt seit drei Monaten, abgesehen von den flüchtigen Eindrücken, als sie am Tag der Vorverhandlung aus dem Gefängnis in der Sankt-Nikodemus-Straße zum Gerichtsgebäude gebracht worden war. Sie war in einem vergitterten Gefangenenwagen transportiert und dort in den Keller geführt worden, von wo ein enger Fahrstuhl sie und ihre Wächter in das Obergeschoß brachte. Dort fand die Verhandlung statt, ihre weitere Haft bis zum Prozess wurde verfügt, und sie war anschließend ins Untersuchungsgefängnis zurückgebracht worden.

Jetzt stand Noelle am Fenster und beobachtete den Verkehr unten auf der Universitätsstraße, Männer und Frauen und Kinder auf dem Weg nach Hause zu ihren Familien. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Noelle Angst. Sie machte sich keine Illusionen über ihre Aussichten auf einen Freispruch. Sie hatte die Zeitungen gelesen und wusste, dass ihr mehr als ein Prozess bevorstand. Es würde ein Blutbad werden, in dem sie und Larry als Opfer dargebracht wurden, um das Gewissen einer empörten Gesellschaft zu befriedigen. Die Griechen hassten sie, weil sie die Heiligkeit der Ehe verspottet hatte, beneideten sie, weil sie jung und reich und schön war, und verabscheuten sie, weil sie spürten, dass ihre Gefühle Noelle völlig gleichgültig waren.

Früher war Noelle mit dem Leben achtlos umgesprungen, hatte rücksichtslos Zeit vergeudet, als ob sie ewig währen würde. Aber jetzt hatte sich etwas in ihr geändert. Die bevorstehende Aussicht auf den Tod hatte Noelle zum ersten Mal erkennen lassen, wie sehr sie am Leben hing. In ihr lastete eine Furcht, die wie ein Krebsgeschwür wucherte, und wenn sie könnte, würde sie einen Handel um ihr Leben abschließen, obwohl sie wusste, dass Demiris Wege fände, es ihr zur Hölle zu machen. Damit würde sie sich abfinden. War es erst soweit, würde sie ihn schon irgendwie überlisten.

Inzwischen brauchte sie seine Hilfe, um am Leben zu bleiben. Einen Vorteil hatte sie. Sie hatte den Gedanken an den Tod immer leicht genommen, so dass Demiris keine Ahnung hatte, wie viel ihr das Leben jetzt bedeutete. Wenn er es wüsste, würde er sie bestimmt sterben lassen. Noelle fragte sich wieder, was er in den vergangenen Monaten gegen sie ersonnen haben mochte, und noch während sie darüber nachdachte, hörte sie, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde, und als sie sich umdrehte, sah sie Constantin Demiris im Türrahmen stehen, und nach einem erschrockenen Blick auf ihn wusste Noelle, dass sie nichts mehr zu fürchten brauchte.

Constantin Demiris war in den wenigen Monaten, seit Noelle ihn das letzte Mal gesehen hatte, um zehn Jahre gealtert. Er war hager und abgemagert, und sein Anzug hing ihm lose am Körper. Aber es waren seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Es waren die Augen einer Seele, die durch die Hölle gegangen war. Die Macht, die Demiris ausgestrahlt hatte, der dynamische, überwältigende Kern seiner Vitalität, war verschwunden. Es war, als ob ein Lichtschalter ausgedreht worden wäre, und alles, was übrig blieb, war das blasse Nachglühen eines vergangenen, früher einmal vorhandenen Glanzes. Er stand da und starrte sie mit schmerzerfüllten Augen an.

Den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Noelle, ob dies nicht ein Trick sein könnte, Teil eines Plans, doch kein Mensch auf der Welt konnte ein so guter Schauspieler sein. Es war Noelle, die das lange Schweigen brach. »Es tut mir leid, Costa«, sagte sie.

Demiris nickte langsam, als ob ihn die Bewegung Mühe kostete. »Ich wollte dich töten«, sagte er müde, und es war die Stimme eines alten Mannes. »Ich hatte alles genau geplant.«

»Warum hast du es nicht getan?«

Er antwortete ruhig: »Weil du mich zuerst getötet hast. Ich habe nie vorher einen Menschen gebraucht. Wahrscheinlich habe ich nie zuvor Schmerz empfunden.«

»Costa«

»Nein. Lass mich ausreden. Ich bin kein Mann, der vergibt. Wenn ich ohne dich auskommen könnte, glaube mir, ich täte es. Aber ich kann nicht. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich will dich wiederhaben, Noelle.«

Sie kämpfte darum, nichts von ihren Empfindungen zu zeigen. »Das liegt nun wirklich nicht mehr bei mir, nicht wahr?«

»Wenn ich deine Freilassung erwirken könnte, kämst du zu mir zurück? Für immer?«

Für immer. Tausend Bilder flogen an Noelles geistigem Auge vorbei. Sie würde Larry nie wieder sehen, nie wieder berühren, nie wieder halten. Noelle hatte keine Wahl, doch selbst wenn sie eine hätte, das Leben war süßer. Und solange sie lebte, gab es immer eine Chance. Sie blickte zu Demiris auf.

»Ja, Costa.«

Demiris blickte sie an. Sein Gesicht verriet seine Bewegung. Als er sprach, klang seine Stimme rau. »Danke«, sagte er. »Wir werden die Vergangenheit vergessen. Sie ist vorüber, und nichts kann sie ändern.« Seine Stimme wurde klarer. »Die Zukunft interessiert mich. Ich werde einen Anwalt für dich engagieren.«

»Wen?«

»Napoleon Chotas.«

Und das war der Augenblick, in dem Noelle wirklich erkannte, dass sie die Partie gewonnen hatte. Schach. Schachmatt.

Jetzt saß Napoleon Chotas an dem langen Verteidigertisch und dachte an den bevorstehenden Kampf. Chotas wäre es viel lieber gewesen, wenn der Prozess in Ioannina statt in Athen stattfände, doch das war unmöglich, da nach griechischem Recht ein Prozess nicht dort stattfinden durfte, wo das Verbrechen begangen worden war. Chotas hatte nicht den geringsten Zweifel an Noelle Pages Schuld, aber das war für ihn unwichtig, denn er war wie alle Strafverteidiger der Meinung, dass die Schuld oder die Unschuld eines Klienten unwesentlich war. Jeder hatte Anspruch auf einen fairen Prozess.

Bei dem Prozess, der jetzt beginnen sollte, war es jedoch etwas anders. Zum ersten Mal in seinem Berufsleben hatte Napoleon Chotas es sich erlaubt, sich an einen Klienten gefühlsmäßig zu binden. Er liebte Noelle Page. Auf Veranlassung von Constantin Demiris hatte er sie aufgesucht, und obwohl Chotas das Image von Noelle Page bekannt war, traf ihn die Wirklichkeit völlig unvorbereitet. Sie hatte ihn empfangen, als ob er ein Gast wäre, der ihr einen Besuch machte. Noelle hatte weder Nervosität noch Furcht gezeigt, und zunächst hatte Chotas dies auf ihr mangelhaftes Verständnis ihrer verzweifelten Situation zurückgeführt. Das Gegenteil hatte sich jedoch als richtig erwiesen. Noelle war die intelligenteste und faszinierendste Frau, der er je begegnet war, und ganz gewiss auch die schönste. Chotas war, wenn seine Erscheinung das auch verleugnete, ein Frauenkenner, und er zollte Noelles außergewöhnlichen Gaben seine Anerkennung. Für Chotas war es stets ein Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie diskutierten über Recht und Kunst und Verbrechen und Geschichte, und sie überraschte ihn ständig von neuem. Er konnte Noelles Liaison mit einem Mann wie Constantin Demiris völlig verstehen, doch ihre enge Beziehung zu Larry Douglas war ihm rätselhaft. Er war der Meinung, dass sie Douglas weit überlegen war, und dennoch vermutete Chotas, dass es eine unerklärliche Affinität gebe, die Menschen veranlasste, sich in die unwahrscheinlichsten Partner zu verlieben. Brillante Wissenschaftler heirateten hohlköpfige Blondinen, große Schriftsteller heirateten dümmliche Schauspielerinnen, intelligente Staatsmänner heirateten Schlampen.