Chotas erinnerte sich an seine Begegnung mit Demiris. Gesellschaftlich kannten sie sich seit Jahren, aber die Anwaltsfirma von Chotas hatte nie für ihn gearbeitet. Demiris hatte Chotas in sein Haus in Varkisa gebeten. Ohne jede Umschweife hatte er das Gespräch begonnen. »Wie Sie vielleicht wissen«, hatte er gesagt, »habe ich an diesem Prozess ein tiefes Interesse. Mademoiselle Page ist die einzige Frau in meinem Leben, die ich wirklich geliebt habe.« Die beiden Männer hatten sechs Stunden lang miteinander gesprochen, jeden Aspekt des Falles diskutiert, jede mögliche Strategie erwogen. Es wurde beschlossen, dass Noelle auf »nicht schuldig« plädieren sollte. Als Chotas aufstand, um zu gehen, hatten sie ein Geschäft abgeschlossen. Für die Übernahme von Noelles Verteidigung sollte Napoleon Chotas das Doppelte seines üblichen Honorars erhalten, und seine Firma sollte zum ersten juristischen Berater von Constantin Demiris' weltumspannendem Imperium werden, eine Rosine im Kuchen, die ungezählte Millionen wert war.
»Wie Sie es machen«, hatte Demiris zum Abschluss grimmig gesagt, »ist mir gleichgültig. Nur sorgen Sie dafür, dass nichts schief geht.«
Chotas hatte angenommen. Und dann hatte er sich ironischerweise in Noelle Page verliebt. Chotas war zwar verheiratet, hatte sich jedoch immer eine Reihe von Geliebten gehalten, und als er jetzt die einzige Frau fand, mit der er allein hätte glücklich sein können, war sie unerreichbar für ihn. Er sah Noelle an, die schön und gelassen auf der Anklagebank saß. Sie trug ein einfaches schwarzes Wollkostüm mit einer schlichten, hochgeschlossenen weißen Bluse und sah aus wie eine Prinzessin aus einem Märchen.
Noelle drehte sich um, bemerkte, dass Chotas sie ansah, und erwiderte seinen Blick mit einem warmen Lächeln. Er lächelte zurück, war aber in Gedanken schon bei der schwierigen Aufgabe, die vor ihm lag. Der Gerichtsschreiber kündigte das Gericht an.
Die Zuschauer erhoben sich, als zwei Richter in Zivil eintraten und ihre Plätze einnahmen. Der dritte Richter, Präsident des Gerichtshofes, folgte ihnen und setzte sich auf den mittleren Sessel. Er verkündete: »I sinethriasis archete.«
Der Prozess hatte begonnen.
Peter Demonides, der Staatsanwalt, erhob sich nervös, um seine Eröffnungsansprache an die Geschworenen zu halten. Demonides war ein erfahrener und fähiger Anklagevertreter, aber er hatte schon früher Napoleon Chotas gegenübergestanden – viele Male sogar -, und das Ergebnis war unveränderlich stets das gleiche gewesen. Der alte Schuft war unschlagbar. Fast alle Strafverteidiger schüchtern gegnerische Zeugen ein, aber Chotas umwarb sie. Er hegte sie und liebte sie, und noch ehe er mit ihnen zu Ende war, widersprachen sie sich selbst in allen Punkten und versuchten, ihm zu helfen. Er hatte es im Griff, aus harten Beweisen Vermutungen zu machen und aus Vermutungen reine Phantasiegebilde. Chotas besaß den brillantesten Juristenverstand und die größten Kenntnisse der Jurisprudenz, denen Demonides je begegnet war, doch das war nicht seine Stärke. Seine Stärke war seine Menschenkenntnis. Ein Reporter hatte ihn einmal gefragt, wo er so viel über die menschliche Natur gelernt hätte.
»Von der menschlichen Natur verstehe ich überhaupt nichts«, hatte Chotas geantwortet. »Ich kenne mich nur mit den
Menschen aus.« Und diese Bemerkung war oft und gern zitiert worden.
Zu allem anderen war dies ein für Chotas geradezu maßgeschneiderter Prozess: Er strotzte von Glanz, Leidenschaft und Mord. Von einem war Demonides überzeugt: Napoleon Chotas würde sich durch nichts abbringen lassen, den Prozess zu gewinnen. Aber das galt auch für Demonides. Er wusste, dass der Fall auf starken Beweisen gegen die Angeklagten fußte, und wenn es Chotas auch gelänge, die Geschworenen zu betören, über die belastenden Beweise hinwegzugehen, so konnte er die drei Richter des Gerichtshofes doch nicht beirren. Mit Entschlossenheit, gemischt allerdings auch mit Besorgnis, begann der Anklagevertreter mit seiner Eröffnungsansprache.
Mit gewandten breiten Strichen umriss Demonides die Anklage. Aufgrund des Gesetzes war der Obmann der Geschworenen ein Jurist, darum wandte er sich mit allen juristischen Argumenten an ihn und richtete sich in den allgemeinen Punkten an die übrigen Geschworenen.
»Ehe dieser Prozess abgeschlossen ist, wird die Anklage beweisen, dass diese beiden Personen sich zu der kaltblütigen Ermordung von Catherine Douglas verschworen haben, weil sie ihren Plänen im Wege stand. Ihr einziges Verbrechen war, dass sie ihren Ehemann liebte, und dafür wurde sie getötet. Die beiden Angeklagten hielten sich am Ort der Tat auf. Sie sind die einzigen, die ein Motiv und eine Gelegenheit zur Tat hatten. Wir werden über jeden Schatten eines Zweifels hinaus beweisen ...«
Demonides fasste sich in seiner Ansprache kurz und sachlich, und dann waren die Verteidiger der Angeklagten an der Reihe.
Die Zuschauer beobachteten Naooleon Chotas, wie er ungeschickt seine Papiere zusammenraffte und sich für seine Eröffnungsansprache vorbereitete. Langsam näherte er sich der Geschworenenbank, sein Auftreten war zögernd und umständlich, so, als ob er von seiner Umgebung eingeschüchtert wäre.
William Fräser, der ihn beobachtete, konnte seine Geschicklichkeit nur bewundern. Wenn er bei einer Party in der Britischen Botschaft nicht einen Abend mit Chotas verbracht hätte, wäre er durch dessen Auftreten getäuscht worden. Er konnte sehen, dass die Geschworenen sich interessiert vorbeugten, um sich nicht eines der Worte entgehen zu lassen, die leise von Chotas' Lippen kamen.
»Der Frau, die hier angeklagt ist«, sagte Chotas zu den Geschworenen, »wird nicht wegen Mordes der Prozess gemacht. Es gab keinen Mord. Wenn es einen Mord gegeben hätte, bin ich überzeugt, dass mein brillanter Kollege von der Anklage so gütig gewesen wäre, uns die Leiche des Opfers vorzuweisen. Er hat es nicht getan, deshalb müssen wir annehmen, dass es keine Leiche gibt. Und deshalb auch keinen Mord.« Er unterbrach sich, um sich auf dem Kopf zu kratzen, und blickte vor sich auf den Boden, als versuche er sich zu erinnern, wo er stehen geblieben war. Er nickte zu sich selbst und sah dann zu den Geschworenen auf. »Nein, meine Herren, darum geht es in diesem Prozess nicht. Meiner Klientin wird der Prozess gemacht, weil sie gegen ein anderes Gesetz verstieß, ein ungeschriebenes Gesetz, das besagt, du sollst nicht mit dem Mann einer anderen Unzucht treiben. Die Presse hat sie schon dieser Anklage für schuldig befunden, und die Öffentlichkeit hat sie für schuldig befunden, und jetzt fordern sie ihre Bestrafung.«