»Nun, vielen Dank, Frau Kasta, das klingt sehr verlockend. Vielleicht könnte ich Ihre Schwester heute Nachmittag kurz besuchen.«
»Sie arbeitet jetzt tagsüber. Um sechs ist sie wieder zu Hause.«
»Wie spät ist es denn jetzt?«
»Ich habe keine Uhr bei mir.«
»Ach so. Dort drüben an der Wand hängt eine große Uhr. Wie spät ist es darauf?«
»Also, das kann ich schlecht erkennen. Es ist auf der anderen Seite des Saals.«
»Und wie weit, meinen Sie, ist die Uhr von Ihnen entfernt?«
»Etwa – na, vielleicht zwanzig Meter.«
»Nicht ganz acht, Frau Kasta. Keine weiteren Fragen.«
Es war der fünfte Tag des Prozesses. Dr. Israel Katz machte sein fehlendes Bein wieder einmal Beschwerden. Wenn er operierte, konnte er ohne Unterbrechung stundenlang auf seiner Prothese stehen, und sie störte ihn nie. Aber hier sitzend, ohne intensive Konzentration, die ihn ablenkte, sandten die Nerven Erinnerungsimpulse an ein Glied aus, das nicht mehr vorhanden war. Katz rutschte ruhelos auf seinem Platz hin und her, um den Druck auf seine Hüfte zu lindern. Seit seiner Ankunft in Athen hatte er täglich vergeblich versucht, Noelle zu sehen. Er hatte mit Napoleon Chotas gesprochen, und der Anwalt hatte ihm erklärt, dass Noelle zu verstört sei, um alte Freunde wieder zu sehen, und dass es das beste sei, zu warten, bis der Prozess vorüber war. Israel Katz hatte ihn gebeten, Noelle zu sagen, dass er gekommen sei, um ihr in jeder ihm möglichen Weise zu helfen, aber er konnte nicht sicher sein, dass sie seine Nachricht erhielt. Tag für Tag hatte er im Gerichtssaal gesessen und gehofft, Noelle würde einmal in seine Richtung sehen, aber sie hatte nie einen Blick auf die Zuschauer geworfen.
Israel Katz verdankte ihr sein Leben, und er war enttäuscht, dass es keine Möglichkeit gab, seine Schuld zu begleichen. Er hatte keine Ahnung, welchen Verlauf der Prozess nehmen würde und ob Noelle verurteilt oder freigesprochen werden würde. Von Chotas hatte er erfahren, dass das Gesetz nur zwei mögliche Urteile zuließ: nicht schuldig oder schuldig. Wenn Noelle nicht schuldig gesprochen wurde, wäre Ein Zeuge der Anklage wurde vereidigt. »Ihr Name?« »Christian Barbet.«
»Sie sind französischer Staatsbürger, Monsieur Barbet?« »Ja.«
»Und wo ist Ihr Wohnsitz?« »In Paris.«
»Würden Sie dem Gericht Ihren Beruf nennen?« »Ich habe eine private Detektivagentur.« »Und wo hat diese Agentur ihren Sitz?« »Die Zentrale ist in Paris.« »Welche Art Fälle bearbeiten Sie?«
»Vielerlei ... wirtschaftliche Auskünfte, Suche nach vermissten Personen, Überwachungen im Auftrag eifersüchtiger Ehemänner oder Frauen ...«
»Monsieur Barbet, würden Sie so freundlich sein, sich hier im Gerichtssaal umzusehen und uns zu sagen, ob irgendeiner der Anwesenden zu irgendeiner Zeit einmal Ihr Klient war?« Ein langer, langsamer Blick durch den Saal. »Ja.« »Würden Sie dem Gericht sagen, wer diese Person ist?« »Die Dame, die dort drüben sitzt. Mademoiselle Noelle Page.« Ein interessiertes Raunen bei den Zuschauern.
»Wollen Sie damit sagen, dass Mademoiselle Page Sie beauftragte, eine Detektivarbeit für sie zu übernehmen?« »Jawohl, Monsieur.«
»Wollen Sie uns dann bitte genau sagen, worin dieser Auftrag bestand?«
»Ja. Sie interessierte sich für einen Mann namens Larry Douglas. Ich sollte alles über ihn herausfinden, was ich in Erfahrung bringen konnte.«
»War das derselbe Larry Douglas, der hier in diesem Gerichtssaal unter Anklage steht?« »Ja, Monsieur.«
»Und Mademoiselle Page hat Sie dafür bezahlt?« »Ja.«
»Wollen Sie sich bitte die Papiere in meiner Hand ansehen. Sind das die Aufzeichnungen über die Zahlungen, die an Sie geleistet wurden ?« »Ja, das sind sie.« »Sagen Sie uns bitte, Monsieur Barbet, auf welche Weise Sie sich« »Das war sehr schwierig. Sehen Sie, ich war in Frankreich und Douglas in England und später in den Vereinigten Staaten, und da
Frankreich von den Deutschen besetzt war« »Wie war das bitte?« »Ich sagte, da Frankreich besetzt war.«
»Einen Augenblick. Ich möchte sichergehen, dass ich richtig verstehe, was Sie sagen, Monsieur Barbet. Von Mademoiselle Pages Anwalt haben wir gehört, dass sie und Larry Douglas sich vor wenigen Monaten kennen lernten und sich leidenschaftlich ineinander verliebten. Und jetzt sagen Sie vor dem Gericht aus, dass ihre Liebesbeziehung schon – wie lange ist es her, dass sie begann?«
»Mindestens sechs Jahre.«
Ein Höllenlärm brach los.
Demonides warf Chotas einen triumphierenden Blick zu. »Ihr Zeuge.«
Napoleon Chotas rieb sich die Augen, erhob sich hinter dem langen Tisch, an dem er saß, und ging zum Zeugenstand.
»Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Monsieur Barbet. Ich kann verstehen, dass Sie begierig sind, zu Ihrer Familie in Frankreich zurückzukehren.«
»Lassen Sie sich getrost Zeit, Monsieur«, entgegnete Barbet selbstgefällig.
»Vielen Dank. Entschuldigen Sie, wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlaube, aber Sie haben da einen sehr schönen Anzug an, Monsieur Barbet.«
»Danke, Monsieur.«
»In Paris gemacht, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur.«
»Er sitzt ausgezeichnet. Ich habe mit meinen Anzügen leider nicht so viel Glück. Haben Sie schon einmal einen englischen Schneider ausprobiert? Sie sollen auch vorzüglich sein.«
»Nein, Monsieur.«
»Aber Sie sind doch sicher schon oft in England gewesen?«
»N-nein.«
»Noch nie?«
»Noch nie.«
»Waren Sie mal in den Vereinigten Staaten?«
»Nein.«
»Haben Sie je den Südpazifik besucht?« »Nein, Monsieur.«
»Dann müssen Sie wirklich ein phantastischer Detektiv sein, Monsieur Barbet. Hut ab vor Ihnen. Ihre Berichte schildern die Tätigkeit von Larry Douglas in England und in den Vereinigten Staaten von Amerika und im Südpazifik – und doch sagen Sie uns hier, dass Sie nie in einem dieser Länder oder im Südpazifik gewesen sind. Ich kann nur annehmen, dass Sie hellseherische Fähigkeiten besitzen.«
»Erlauben Sie, dass ich Sie berichtige, Monsieur. Ich brauchte nicht in diese Länder zu reisen. Ich unterhalte in England und Amerika das, was wir Korrespondenzagenturen nennen.«
»Ach so. Verzeihen Sie, wie dumm von mir! Es waren in Wirklichkeit also diese Leute, die den Aktivitäten von Larry Douglas nachgegangen sind?« »Exactement.«
»Und damit steht fest, dass Sie persönlich keine Kenntnis von der Tätigkeit von Larry Douglas haben?« »Nun ... nein, Monsieur.«
»Ihre Informationen stammen also nur aus zweiter Hand.« »Ah ... in gewisser Weise, ja.«
Chotas wandte sich den Richtern zu. »Ich beantrage, die gesamte Aussage dieses Zeugen aus dem Protokoll zu streichen, Euer Ehren, mit der Begründung, dass sie auf Hörensagen beruht.«
Peter Demonides sprang auf. »Einspruch, Euer Ehren. Noelle Page hat Monsieur Barbet beauftragt, Informationen über Larry Douglas einzuholen. Das ist nicht Hörensagen«
»Mein gelehrter Kollege hat die Berichte als Beweismittel vorgelegt«, sagte Chotas freundlich. »Ich bin durchaus bereit, sie anzuerkennen, falls er die Leute hier vorzuladen wünscht, die die Überwachung von Larry Douglas tatsächlich übernommen hatten. Sonst muss ich das Gericht bitten anzunehmen, dass eine derartige Überwachung gar nicht erfolgt ist, und beantragen, dass die Aussage dieses Zeugen als unzulässig zurückgewiesen wird.«
Der Präsident wandte sich an Demonides. »Sind Sie bereit, diese Zeugen hier vorzuladen?« fragte er.
»Das ist unmöglich«, protestierte Demonides. »Herr Chotas weiß genau, dass es Wochen dauern würde, sie ausfindig zu machen!« Der Präsident wandte sich an Chotas. »Dem Antrag wird statt gegegeben.