Ein zweiter Gerichtsdiener eilte hinzu, und die beiden Männer hielten Larry fest. Einer zog ein Paar Handschellen hervor.
»Nein!« schrie Larry. »Hören Sie mich an! Ich habe sie nicht getötet!«
Er versuchte, sich von den Gerichtsdienern zu befreien, aber die Handschellen schnappten ein, und sie zogen ihn fort.
Noelle spürte einen Druck auf ihrem Arm. Eine Aufseherin wartete neben ihr, um sie aus dem Saal zu führen.
»Man wartet auf Sie, Mademoiselle Page.«
Es war wie der Ruf zum Auftritt im Theater. Man wartet auf Sie, Mademoiselle Page. Doch wenn dieses Mal der Vorhang gefallen war, würde er nie wieder aufgehen. Die Erkenntnis überfiel Noelle, dass sie zum letzten Mal in ihrem Leben vor einem Publikum stand, das letzte Mal in ihrem Leben, dass sie ohne trennende Gitter von Menschen umgeben war. Dies war ihre Abschiedsvorstellung, in diesem schmutzigen, düsteren griechischen Gerichtssaal, ihr letzter Auftritt. Nun, dachte sie trotzig, jedenfalls habe ich ein volles Haus. Zum letzten Mal sah sie sich in dem überfüllten Saal um.
Sie sah Armand Gautier, der sie in benommenem Schweigen anstarrte, dieses eine Mal aus seinem Zynismus aufgestört.
Da war Philippe Sorel, sein narbiges Gesicht bemühte sich angestrengt um ein ermutigendes Lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz.
Auf der anderen Seite des Saals war Israel Katz. Seine Augen waren geschlossen, und seine Lippen bewegten sich lautlos wie in einem stummen Gebet. Noelle erinnerte sich an die Nacht, in der sie ihn im Kofferraum des Generals unter der Nase des Albino-Gestapo-Offiziers aus Paris geschmuggelt hatte, und an die Angst, die sie damals ausgestanden hatte. Doch es war nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das sich jetzt ihrer bemächtigte.
Noelles Blick wanderte durch den Raum und blieb auf dem Gesicht von Auguste Lanchon, dem Ladenbesitzer, haften. Sie konnte sich an seinen Namen nicht erinnern, aber sie erinnerte sich an sein Schweinsgesicht und an seinen schweren, schwammigen Körper und das schäbige Hotelzimmer in Vienne. Als er bemerkte, dass sie ihn ansah, blinzelte er und senkte den Blick.
Ein hoch gewachsener, attraktiver Mann mit grauem Haar, der wie ein Amerikaner aussah, stand auf und blickte zu ihr herüber, als ob er ihr etwas sagen wollte. Noelle hatte keine Ahnung, wer er war.
Die Aufseherin zog sie jetzt am Arm und sagte: »Kommen Sie, Mademoiselle Page ...«
Frederick Stavros befand sich in einem Schockzustand. Er war nicht nur Zeuge eines kaltblütigen Ränkespiels geworden, er war daran beteiligt gewesen. Er konnte zum Gerichtspräsidenten gehen und ihm berichten, was vorgegangen war, was Chotas versprochen hatte. Aber würde man ihm glauben? Würde man seinem Wort gegen das von Napoleon Chotas glauben? Es spielte tatsächlich keine Rolle, dachte Stavros bitter. In Zukunft war er als Rechtsanwalt erledigt. Niemand würde ihn je wieder konsultieren. Jemand nannte seinen Namen, und als er sich umdrehte, stand Chotas hinter ihm und sagte: »Wenn Sie morgen Zeit haben, kommen Sie doch mit mir Mittag essen, Frederick. Ich möchte, dass Sie meine Partner kennen lernen. Ich glaube, dass Sie eine viel versprechende Zukunft vor sich haben.«
Über die Schulter von Chotas hinweg konnte Frederick Stavros den Gerichtspräsidenten durch die Tür zum Beratungszimmer den Saal verlassen sehen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, mit ihm zu sprechen, zu erklären, was vorgefallen war. Stavros wandte sich wieder Napoleon Chotas zu. Seine Gedanken waren noch ganz von dem Grauenvollen erfüllt, das dieser Mann getan hatte, aber er hörte sich sagen: »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Um welche Zeit wäre es Ihnen angenehm ... ?«
Nach griechischem Gesetz finden Hinrichtungen auf der kleinen Insel Ägina, eine Stunde vom Hafen von Piräus entfernt, statt. Ein Spezialboot der Regierung transportiert die Verurteilten zu der Insel. Eine Reihe kleiner grauer Klippen führt zu ihrem Hafen, und hoch oben auf einem Berg steht auf herausragenden Felsen ein Leuchtturm. Das Gefängnis von Ägina liegt auf der Nordseite der Insel, von dem kleinen Hafen aus nicht zu sehen, in dem Ausflugsboote regelmäßig Scharen aufgeregter Touristen für ein bis zwei Stunden zu Einkäufen oder Besichtigungen ausspeien, ehe die Fahrt zur nächsten Insel weitergeht. Die Besichtigung des Gefängnisses ist bei dem Rundgang nicht vorgesehen, und niemand nähert sich ihm außer in amtlichem Auftrag.
Es war vier Uhr an einem Samstagmorgen. Noelles Hinrichtung war für sechs Uhr angesetzt.
Man hatte Noelle ihr Lieblingskleid gebracht, ein weinrotes Dior-Modell aus Schurwolle, und dazu passende rote Wildlederschuhe. Sie trug ganz neue handgestickte Seidenwäsche und ein weißes Jabot aus venezianischen Spitzen. Constantin Demiris hatte ihr ihre ständige Friseuse geschickt, um sie zu frisieren. Es war, als ob Noelle sich auf eine Gesellschaft vorbereitete.
Verstandesmäßig wusste Noelle, dass es keine Begnadigung in letzter Minute geben würde, dass in kurzer Zeit ihr Körper brutal zerstört und ihr Blut auf den Boden strömen würde. Und dennoch konnte sie gefühlsmäßig die Hoffnung nicht unterdrücken, dass Constantin Demiris ein Wunder bewirken und ihr Leben schonen würde. Es müsste nicht einmal ein Wunder sein – es bedurfte nur eines Telefonanrufs, eines Wortes, eines Winks seiner goldenen Hand. Wenn er sie jetzt schonte, würde sie es ihm lohnen. Sie würde alles tun. Wenn sie ihn nur sehen könnte, würde sie ihm versprechen, nie wieder einen anderen Mann anzublicken, sich ganz der Aufgabe zu widmen, ihn für den Rest seines Lebens glücklich zu machen. Aber sie wusste, dass Betteln nichts nützen würde. Wenn Demiris zu ihr käme, ja. Wenn sie zu ihm gehen müsste, nein. Noch lagen zwei Stunden vor ihr.
Larry Douglas befand sich in einem anderen Teil des Gefängnisses. Seit seiner Verurteilung hatte seine Post sich verzehnfacht. Briefe von Frauen aus allen Teilen der Welt trafen ein, und der Gefängnisdirektor, der sich für einen gebildeten und welterfahrenen Mann hielt, war über manche von ihnen schockiert.
Larry Douglas hätte wahrscheinlich seine Freude an ihnen gehabt, wenn er etwas davon gewusst hätte. Aber er befand sich in einer narkotisierten Welt des halben Zwielichts, in der ihn nichts berührte. In den ersten Tagen auf der Insel war er gewalttätig, schrie Tag und Nacht, er sei unschuldig und verlange einen neuen Prozess. Der Gefängnisarzt hatte schließlich angeordnet, ihn ständig unter Beruhigungsmitteln zu halten.
Um zehn Minuten vor fünf, als der Gefängnisdirektor mit vier Wächtern in Larry Douglas' Zelle kam, um ihn abzuholen, saß er still und in sich versunken auf seiner Pritsche. Der Direktor musste ihn zweimal mit Namen ansprechen, ehe Larry begriff, dass sie ihn abholen wollten. Er erhob sich teilnahmslos und wie im Traum.
Der Direktor führte ihn aus der Zelle, und sie gingen in einer langsamen Prozession auf eine bewachte Tür am Ende des Ganges zu. Als sie die Tür erreichten, öffnete der Wachtposten sie, und sie traten in einen ummauerten Hof hinaus. Die Luft vor Anbruch der Dämmerung war kühl, und Larry fror, als er durch die Tür ging. Am Himmel standen der Vollmond und leuchtende Sterne. Es erinnerte ihn an die frühen Morgenstunden auf den Inseln im Südpazifik, wenn die Piloten ihre warmen Quartiere verließen und sich zu einer letzten Befehlsausgabe vor dem Start unter den kühlen Sternen versammelten. Er konnte das Rauschen des Meeres in der Ferne hören und versuchte sich zu erinnern, auf welcher Insel er sich befand und was sein Auftrag war. Mehrere Männer führten ihn zu einem Pfosten vor einer Mauer und banden ihm die Arme auf dem Rücken zusammen.
Er empfand jetzt keinen Zorn mehr, nur eine Art träger Verwunderung darüber, wie diese Befehlsausgabe gehandhabt wurde. Eine tiefe Müdigkeit erfüllte ihn, doch er wusste, dass er nicht einschlafen durfte, weil er den Einsatz zu leiten hatte. Er hob den Kopf und sah Männer in Uniform vor sich aufgereiht. Sie zielten mit Gewehren auf ihn. Alte, tief verwurzelte Instinkte in ihm gewannen die Oberhand. Sie würden aus verschiedenen Richtungen angreifen und versuchen, ihn von seiner Staffel abzudrängen, weil sie sich vor ihm fürchteten. Bei drei Uhr tief bemerkte er eine Bewegung und wusste, dass sie es auf ihn abgesehen hatten. Sie nahmen wohl an, dass er sich ihrer Reichweite entziehen würde, doch statt dessen drückte er den Steuerknüppel ganz vor und ging in einen Außenlooping, der beinahe die Flügel seines Flugzeuges abriss. Auf dem Tiefpunkt der Schleife ging er in die Gerade und vollzog eine halbe Rolle nach links. Da war keine Spur mehr von ihnen zu sehen. Er hatte sie ausmanövriert. Er begann zu steigen und sah unter sich eine Zero. Er lachte laut und steuerte seine Maschine mit Knüppel und Pedal nach rechts, bis er die Zero mitten in seinem Visier hatte. Dann fegte er wie ein Racheengel hinab, verringerte die Distanz mit schwindelerregendem Tempo. Seine Finger drückten auf den Abzugsknopf, als plötzlich ein marternder Schmerz seinen Körper durchschlug. Und noch einmal. Und noch einmal. Er spürte, wie sein Fleisch zerriss und seine Eingeweide vorquollen, und er dachte: O mein Gott! Wo kommt der her? ... Das ist ein besserer Pilot als ich ... Ich möchte wissen, wer das ist ...