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Und dann begann er jäh in den Raum abzutrudeln, und alles wurde dunkel und still.

Noelle wurde in ihrer Zelle frisiert, als sie das Krachen der Salve draußen vernahm.

»Gibt es Regen?« fragte sie.

Die Friseuse sah sie einen Augenblick befremdet an, erkannte aber, dass sie wirklich nicht wusste, was das Geräusch bedeutete. »Nein«, sagte sie ruhig, »es wird ein schöner Tag.«

Und dann wusste Noelle Bescheid.

Und sie war die nächste.

Um fünf Uhr dreißig, eine halbe Stunde vor ihrer Hinrichtung, hörte Noelle auf ihre Zelle zukommende Schritte. Ihr Herz machte unwillkürlich einen Sprung. Sie war überzeugt gewesen, dass Constantin Demiris sie noch einmal sehen wollte. Sie wusste, dass sie niemals schöner ausgesehen hatte und, vielleicht, wenn er sie sah ... vielleicht ... Der Gefängnisdirektor erschien, begleitet von einem Aufseher und einer Krankenschwester mit einer großen schwarzen Arzttasche. Der Aufseher öffnete die Zellentür, und der Direktor und die Schwester kamen herein. Noelle suchte hinter ihnen nach Demiris. Der Gang war leer. Noelle fühlte ihr Herz klopfen, eine Woge der Angst überschwemmte sie und ertränkte die vage Hoffnung, die sich in ihr geregt hatte.

»Es ist doch noch nicht Zeit, oder?« fragte Noelle.

Der Direktor machte ein verlegenes Gesicht. »Nein, Made-

moiselle Page. Die Schwester möchte Ihnen einen Einlauf machen.«

Sie sah ihn verständnislos an. »Ich brauche keinen Einlauf.«

Er wurde noch verlegener. »Es wird Sie vor Peinlichkeiten bewahren.«

Jetzt verstand Noelle. Und ihre Furcht verwandelte sich in rasende Todesangst, die an ihrem Magen zerrte. Sie nickte, und der Direktor drehte sich um und verließ die Zelle. Der Aufseher schloss die Tür und ging taktvoll auf dem Gang ein Stück weiter.

»Wir wollen doch nicht dieses schöne Kleid beschmutzen«, gurrte die Schwester. »Ziehen Sie es doch einfach aus und legen Sie sich dorthin. Es dauert ja nur eine Minute.«

Die Schwester machte ihr den Einlauf, aber Noelle spürte nichts. Sie war bei ihrem Vater, und er sagte: Seht sie doch an. Ein Fremder kann erkennen, dass sie von königlichem Blut ist. Und die Menschen schlugen sich darum, sie in die Arme zu nehmen und zu halten. Ein Priester war im Raum und fragte: »Wollen Sie vor Gott ein Geständnis ablegen, mein Kind?« Aber sie schüttelte ungeduldig den Kopf, denn ihr Vater sprach, und sie wollte hören, was er sagte. Du bist als Prinzessin geboren, und dies ist dein Königreich. Wenn du erwachsen bist, wird ein schöner Prinz kommen und dich fortführen, und du wirst in einem großen schloss wohnen.

Sie ging mit mehreren Männern durch einen langen Gang, und jemand öffnete eine Tür, und sie stand im Freien in einem kalten Hof. Ihr Vater hob sie zu einem Fenster hinauf, und sie konnte die hohen Masten auf dem Wasser schaukelnder Schiffe sehen.

Die Männer führten sie zu einem Pfahl vor einer hohen Mauer, fesselten ihr die Hände auf dem Rücken, banden sie mit der Taille an den Pfahl, und ihr Vater sagte: Siehst du diese Schiffe, Prinzessin? Das ist deine Flotte. Eines Tages wird sie dich in alle Wunderländer der Welt tragen. Und er hielt sie fest an sich gedrückt, und sie fühlte sich sicher. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, warum, aber ihr Vater war böse mit ihr gewesen, doch jetzt war alles wieder gut, und er liebte sie wieder, und sie wandte sich ihm zu, aber sein Gesicht war verschwommen, und sie konnte sich nicht erinnern, wie er aussah. Sie konnte sich nicht an das Gesicht ihres Vaters erinnern.

Eine überwältigende Traurigkeit erfüllte sie, als ob sie etwas Kostbares verloren hätte, und sie wusste, dass sie sich an ihn erinnern müsste, oder sie müsste sterben, und sie konzentrierte sich mit aller Macht, doch noch ehe sie das Gesicht erkennen konnte, krachte es plötzlich, und tausend Messer des Todesschmerzes schnitten ihr ins Fleisch, und ihr Herz schrie: Nein! Noch nicht! Lasst mich das Gesicht meines Vaters sehen!

Doch es war für immer in der Dunkelheit versunken.

Epilog

Der Mann und die Frau gingen über den Friedhof, ihre Gesichter wurden von den Schatten der hohen, anmutigen Zypressen, die den Weg säumten, gefleckt. Sie gingen langsam in der flimmernden Hitze der Mittagssonne.

Schwester Teresa sagte: »Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, wie dankbar wir Ihnen für Ihre Großzügigkeit sind. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie angefangen hätten.«

Constantin Demiris machte eine abwehrende Handbewegung. »Arkito«, sagte er. »Es ist nicht der Rede wert.«

Aber Schwester Teresa wusste, dass das Kloster ohne diesen Retter schon vor Jahren hätte schließen müssen. Und ganz gewiss war es ein Fingerzeig des Himmels, dass sie sich ihm jetzt in gewissem Umfang hatte dankbar erweisen können. Es war ein thriamvos, ein Triumph. Sie dankte Sankt Dionysos wieder, dass es den Schwestern vergönnt gewesen war, Demiris' amerikanische Freundin in jener schrecklichen Sturmnacht aus den Wassern des Sees zu retten. Gewiss, etwas war dem Verstand der Frau widerfahren. Sie war wie ein Kind, aber es wurde für sie gesorgt. Constantin Demiris hatte Schwester Teresa gebeten, die Frau in diesen Mauern aufzunehmen und sie den Rest ihres Lebens vor der Außenwelt zu behüten und zu beschützen. Er war ein so gütiger und freundlicher Mann.

Sie hatten das Ende des Friedhofs erreicht. Ein Pfad schlängelte sich zu einem Vorsprung hinunter, wo die Frau stand und auf den ruhigen, smaragdgrünen See hinabblickte.

»Dort ist sie«, sagte Schwester Teresa. »Ich verlasse Sie jetzt. Cherete.«

Demiris sah Schwester Teresa nach, die zum Kloster zurückging. Dann ging er den Pfad hinunter zu der Frau.

»Guten Morgen«, grüßte er freundlich.

Langsam drehte sie sich um und sah ihn an. Ihr Blick war trüb und leer, und kein Zeichen des Erkennens zeigte sich auf ihrem Gesicht.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte Constantin Demi-ris. Er zog ein kleines Schmucketui aus der Tasche und hielt es ihr hin. Sie starrte darauf wie ein kleines Kind.

»Nur zu. Nehmen Sie es.«

Langsam streckte sie die Hand nach dem Etui aus und nahm es. Sie öffnete den Deckel, und darin lag auf Watte ein kleiner, äußerst fein gearbeiteter goldener Vogel mit Rubinaugen und zum Flug ausgebreiteten Flügeln. Demiris beobachtete, wie die Kind-Frau ihn aus dem Etui nahm und hochhob. Die helle Sonne fiel auf das schimmernde Gold und die Rubine und ließ sie strahlend aufleuchten. Sie drehte ihn nach allen Seiten und betrachtete den Widerschein des tanzenden Lichts.

»Ich werde Sie nicht wieder sehen«, sagte Demiris, »aber Sie brauchen nichts zu befürchten. Die bösen Menschen sind tot.«

Während er sprach, war ihr Gesicht zufällig ihm zugewandt, und einen Augenblick, in dem die Zeit stillstand, schien es ihm, dass ein Schimmer des Verstehens, ein Ausdruck der Freude in ihre Augen trat, aber gleich darauf war es wieder verschwunden, und nur der leere, geistlose Blick blieb zurück. Es konnte eine Illusion gewesen sein, ein Spiel des Sonnenscheins, der das Funkeln des goldenen Vogels in ihren Augen reflektierte.