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Es war ein langer Tag gewesen. Er hatte noch vor Sonnenaufgang operiert, bei einem Dutzend Patienten Visite gemacht und war aus einer Aufsichtsratssitzung des Hospitals weggegangen, um nach Athen zu dem Prozess zu fliegen. Seine Frau Esther hatte ihm abgeraten.

»Du kannst jetzt nichts für sie tun, Israel.«

Vielleicht hatte sie Recht, aber Noelle Page hatte einmal ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um das seine zu retten, und er war in ihrer Schuld. Er dachte jetzt an Noelle und hatte dasselbe unbeschreibliche Gefühl, das er immer gehabt hatte, wenn er bei ihr war. Es war, als ob die bloße Erinnerung an sie die Jahre, die sie trennten, schwinden lassen könnte. Natürlich war es eine romantische Einbildung. Nichts konnte jene Jahre je zurückbringen. Dr. Israel Katz spürte, wie das Flugzeug zitterte, als das Fahrgestell ausgefahren wurde und es zur Landung ansetzte. Er blickte durchs Bullauge, und unter ihm lag Kairo ausgebreitet, wo er in eine TAE-Maschine nach Athen und zu Noelle umsteigen würde. War sie des Mordes schuldig? Als die Maschine auf die Landebahn zusteuerte, musste er an den anderen entsetzlichen Mord denken, den sie

in Paris begangen hatte.

Philippe Sorel stand an der Reling seiner Jacht und beobachtete, wie der Hafen Piräus näher rückte. Er hatte die Seereise genossen, weil sie ihm eine der seltenen Gelegenheiten bot, seinen Fans zu entfliehen. Sorel war einer der wenigen sicheren Kassenmagneten in der Welt, wenngleich die Chancen, dass er je die Höhe des Stars erklimmen würde, äußerst gering gewesen waren. Er war kein gutaussehender Mann. Im Gegenteil. Er hatte das Gesicht eines Boxers, der sein letztes Dutzend Matches verloren hatte. Seine Nase war mehrere Male gebrochen, sein Haarwuchs war dünn, und er hinkte leicht. Aber all dies spielte keine Rolle, denn Philippe Sorel hatte SexAppeal. Er war ein gebildeter, leise sprechender Mann, und die Verbindung seiner ihm angeborenen Güte mit dem Gesicht und dem Körper eines LKW-Fahrers machte die Frauen toll und ließ die Männer zu ihm aufsehen wie zu einem Helden. Jetzt näherte sich seine Jacht dem Hafen, und Sorel fragte sich wieder, was er eigentlich hier verloren hatte. Er hatte einen Film, den er hatte drehen wollen, aufgeschoben, um bei Noelles Prozess anwesend sein zu können. Er war sich nur zu wohl bewusst, was für ein leichtes Ziel er der Presse bieten würde, wenn er jeden Tag im Gerichtssaal säße, völlig ungeschützt von seinen Presseagenten und Managern. Die Reporter würden seine Anwesenheit bestimmt mißverstehen und glauben, es sei ein Versuch, aus dem Mordprozess seiner früheren Geliebten Kapital in Form von Publicity zu schlagen. Wie immer er es ansah, würde es eine schmerzliche Erfahrung werden, aber Sorel musste Noelle wiedersehen, musste herausbekommen, ob es eine Möglichkeit gab, ihr zu helfen. Als die Jacht in den mit weißen Steinen ausgemauerten Hafendamm glitt, dachte er über die Noelle nach, die er gekannt, mit der er gelebt und die er geliebt hatte, und kam zu dem Schluß: Noelle war eines Mordes durchaus fähig.

Während Philippe Sorels Jacht der Küste Griechenlands zueilte, saß der persönliche Referent des Präsidenten der Vereinigten Staaten in einem Pan American Clipper, hundert Luftmeilen nordwestlich vom Flughafen Hellenikon entfernt. William Fräser war ein Mittfünfziger, ein gutaussehender grauhaariger Mann mit kantigem Gesicht und gebieterischem Wesen. Er starrte auf eine Akte in seiner Hand, hatte jedoch seit mehr als einer Stunde keine Seite umgeblättert oder sich gerührt. Fräser hatte Urlaub genommen, um diese Reise zu machen, obgleich sie zur ungeeignetsten Zeit gekommen war, mitten in einer Kongreßkrise. Er wusste, wie schmerzlich die nächsten Wochen für ihn sein würden, doch war er überzeugt, dass er keine andere Wahl hatte. Es war eine Reise der Rache, und dieser Gedanke erfüllte Fräser mit kalter Befriedigung. Bewusst zwang er sich, nicht an den morgen beginnenden Prozess zu denken, und blickte durchs Fenster der Maschine. Tief unten konnte er ein Ausflugsboot mit Kurs auf Griechenland sehen, dessen Küste undeutlich in der Ferne auftauchte.

Auguste Lanchon war drei Tage lang seekrank und furchterfüllt gewesen. Seekrank, weil das Boot, das er in Marseille bestiegen hatte, in den Ausläufer eines Mistrals geraten war, und furchterfüllt, weil er Angst hatte, seine Frau könnte herausfinden, was er tat. Auguste Lanchon war in den Sechzigern, ein dicker, glatzköpfiger Mann mit kurzen Beinen und einem pockennarbigen Gesicht mit Schweinsaugen und dünnen Lippen, zwischen denen ständig der Stummel einer billigen Zigarre stak. Lanchon besaß ein Modegeschäft in Marseille und konnte es sich nicht leisten, sich wie reiche Leute einen richtigen Urlaub zu nehmen – das zumindest erklärte er dauernd seiner Frau. Natürlich war dies nicht eigentlich ein Urlaub, rief er sich ins Gedächtnis. Er musste seinen Liebling Noelle noch einmal sehen. In den Jahren, nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte er ihre Laufbahn in den Klatschspalten der Zeitungen und Magazine begierig verfolgt. Als sie die Hauptrolle in ihrem ersten Stück spielte, war er mit der Bahn extra nach Paris gefahren, um sie zu sehen, aber Noelles blöde Sekretärin hatte ihn nicht vorgelassen. Später hatte er immer wieder Noelles Filme gesehen und hatte sich dabei an ihre Umarmungen erinnert. Gewiss, diese Reise würde teuer werden, aber Auguste Lanchon wusste, dass jeder Sou, den er ausgab, sich lohnen würde. Sein Liebling Noelle würde sich an die schöne Zeit erinnern, die sie zusammen verbracht hatten, und sie würde sich schutzsuchend an ihn wenden. Er würde einen Richter oder sonst einen Beamten bestechen – wenn es nicht zuviel kostete -, Noelle würde freigesprochen werden, und er würde sie in einem kleinen Appartement in Marseille unterbringen, wo sie immer für ihn da wäre, wenn er sie brauchte. Wenn bloß seine Frau nichts herausbekam.

In Athen arbeitete Frederick Stavros in seinem winzigen Anwaltsbüro im zweiten Stock eines alten heruntergekommenen Hauses im Armenbezirk Monastiraki. Stavros war ein empfindsamer junger Mann, eifrig und ehrgeizig, sich mühsam abrackernd, um aus seinem gewählten Beruf eine Existenzgrundlage zu schaffen. Da er sich keine Bürokraft leisten konnte, musste er die ganze langweilige juristische Kleinarbeit selbst erledigen. Gewöhnlich haßte er diesen Teil seiner Tätigkeit, diesmal machte sie ihm aber nichts aus, weil er wusste, dass seine Dienste, wenn er diesen Fall gewänne, derart gefragt sein würden, dass er sich für den Rest seines Lebens keine Sorgen mehr machen müsste. Dann könnten er und Elena heiraten und eine Familie gründen. Er würde in eine Flucht luxuriöser Büroräume umziehen, Sekretäre einstellen und in einen fashionablen Athener Klub eintreten, wo man mit reichen potentiellen Klienten bekannt wurde. Die Verwandlung hatte bereits begonnen. Jedesmal, wenn Frederick auf die Straße trat, wurde er von jemandem erkannt und angehalten, der sein Bild in der Zeitung gesehen hatte. In wenigen Wochen war er aus der Anonymität herausgeschleudert und zum Verteidiger von Larry Douglas geworden. Ganz im Hintergrund seiner Seele gestand Stavros sich ein, dass er den falschen Klienten hatte. Viel lieber hätte er die bezaubernde Noelle Page statt einer Null wie diesen Larry Douglas verteidigt, aber er selbst war ja auch eine Null. Es genügte schon, dass er, Frederick Stavros, ein Hauptbeteiligter in dem sensationellsten Mordfall des Jahrhunderts war. Spräche man die Angeklagten frei, würde jeder genug Ruhm ernten. Nur etwas plagte Stavros, und er musste unaufhörlich daran denken. Beide Angeklagten waren desselben Verbrechens bezichtigt, aber Noelle Page hatte einen anderen Verteidiger. Wenn Noelle Page für unschuldig befunden wurde und Larry Douglas wurde verurteilt ... Stavros bebte und versuchte, nicht daran zu denken. Die Reporter fragten ihn immer wieder, ob er die Angeklagten für schuldig halte. Er lächelte über ihre Naivität in sich hinein. Welche Rolle spielte es, ob sie schuldig oder unschuldig waren? Sie hatten Anspruch auf die beste Verteidigung, die man für Geld bekommen konnte. In seinem Fall gab er zu, dass die Definition ein wenig überspannt war. Aber im Falle von Noelle Pages Anwalt... nun, das war etwas anderes. Napoleon Chotas hatte ihre Verteidigung übernommen, und es gab keinen glänzenderen Strafverteidiger in der Welt. Chotas hatte noch nie einen wichtigen Fall verloren. Als er darüber nachdachte, lächelte Frederick Stavros vor sich hin. Er hätte es niemandem eingestanden, aber er plante, auf Napoleon Chotas' Talent zum Sieg zu reiten.