Während Frederick Stavros in seinem schäbigen Anwaltsbüro schuftete, war Napoleon Chotas auf einer Dinner Party in einem luxuriösen Haus im eleganten Viertel Kolonaki in Athen. Chotas war ein dünner, ausgemergelt aussehender Mann mit den großen traurigen Augen eines Bluthundes in einem runzligen Gesicht. Er verbarg einen glänzenden, durchdringenden Verstand hinter einem freundlichen, leicht verwirrten Benehmen. Chotas saß da, stocherte an seinem Nachtisch herum, war in Gedanken verloren, sann über den
Prozess nach, der morgen beginnen würde. Der größte Teil der Unterhaltung an jenem Abend hatte sich um den kommenden Prozess gedreht. Die Diskussion wurde allgemein gehalten, denn die Gäste waren zu taktvoll, ihm direkte Fragen zu stellen. Aber gegen Ende des Abends, als Ouzo und Cognac reichlicher flössen, hatte die Gastgeberin gefragt: »Sagen Sie uns, halten Sie sie für schuldig?«
Chotas erwiderte unschuldig: »Wie könnten sie schuldig sein? Einer von ihnen ist mein Klient.« Was ihm verständnisvolles Lachen eintrug.
»Wie ist Noelle Page wirklich?«
Chotas zögerte. »Sie ist eine absolut ungewöhnliche Frau«, erwiderte er vorsichtig. »Sie ist schön und begabt« Zu seiner eigenen Überraschung entdeckte er, dass er plötzlich nicht mehr über sie sprechen wollte. Außerdem war es unmöglich, Noelle mit Worten zu fassen. Noch bis vor einigen Monaten war er sich ihrer nur undeutlich als einer bezaubernden Erscheinung bewusst gewesen, die durch die Klatschspalten huschte und die Vorderseiten von Filmmagazinen zierte. Er hatte sie nie zu Gesicht bekommen, und wenn er überhaupt an sie gedacht hatte, dann mit der gleichgültigen Verachtung, die er allen Schauspielerinnen gegenüber hegte. Nur Körper und kein Hirn. Aber wie hatte er sich da geirrt! Als er Noelle kennen lernte, hatte er sich hoffnungslos in sie verliebt. Wegen Noelle Page hatte er seine Grundregel gebrochen: sich bei einem Klienten nie emotionell zu engagieren. Chotas erinnerte sich lebhaft an den Nachmittag, an dem man an ihn herangetreten war, ihre Verteidigung zu übernehmen. Er war gerade beim Packen für eine Reise gewesen, die er und seine Frau nach New York machen wollten, wo ihre Tochter soeben ihr erstes Kind bekommen hatte. Nichts, so hatte er geglaubt, hätte ihn von dieser Reise abhalten können. Aber es hatte nur zweier Worte bedurft. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Diener ins Schlafzimmer treten, ihm das Telefon reichen und sagen:
»Constantin Demiris.«
Die Insel war nur mit Hubschrauber und Jacht zu erreichen, und Flughafen und Privathafen wurden rund um die Uhr von bewaffneten Wachen mit dressierten Schäferhunden abpatrouilliert. Die Insel war das Privatherrschaftsgebiet von Constantin Demiris, und niemand betrat sie ohne Einladung. Über die Jahre hinweg hatten ihre Gäste Könige und Königinnen, Präsidenten und ehemalige Präsidenten, Filmstars, Opernsänger und -Sängerinnen und berühmte Schriftsteller und Maler eingeschlossen. Sie alle waren ehrfurchtsvoll wieder abgefahren. Constantin Demiris war der drittreichste Mann und einer der mächtigsten Männer der Welt, und er hatte Geschmack und Stil und verstand es, sein Geld auszugeben, um Schönheit zu schaffen.
Demiris saß jetzt in seiner reich getäfelten Bibliothek entspannt in einem tiefen Armsessel. Er rauchte eine der flachen, eigens für ihn gemischten ägyptischen Zigaretten und sann über den Prozess nach, der morgen früh beginnen sollte. Seit Monaten hatte die Presse versucht, an ihn heranzukommen, aber er war einfach nicht zu erreichen. Es genügte schon, dass seine Geliebte wegen Mordes vor Gericht stehen würde, genügte, dass sein Name in den Fall hineingezogen würde, selbst indirekt. Er lehnte es ab, den Furor noch zu verschlimmern, indem er Interviews gab. Er fragte sich, wie Noelle sich jetzt fühlte, in diesem Augenblick, in ihrer Zelle im Gefängnis in der Nikodemusstraße. Schlief sie? War sie wach? In Panik über die ihr bevorstehende schwere Prüfung? Er dachte an sein letztes Gespräch mit Napoleon Chotas. Er vertraute Chotas und wusste, dass der Anwalt ihn nicht im Stich lassen würde. Demiris hatte dem Anwalt eingeprägt, dass es keine Rolle spielte, ob Noelle unschuldig oder schuldig war. Chotas sollte dafür sorgen, dass er jeden Penny des horrenden Honorars verdiente, das Constantin Demiris ihm für die Verteidigung bezahlte. Nein, er hatte keinen Grund zur Sorge. Der Prozess würde gut verlaufen. Weil Constantin Demiris ein Mann war, der nie etwas vergaß, erinnerte er sich, dass Catherine Douglas' Lieblingsblumen Triantafylias, die schönen Rosen Griechenlands, waren. Er langte nach einem Notizblock auf seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf. Triantafylias. Catherine Douglas. Es war das wenigste, was er für sie tun konnte.
ERSTES BUCH
Noelle
Chicago 1919-1939
Jede Großstadt hat ein charakteristisches Image, eine Individualität, die ihr ihren besonderen Stempel aufdrückt. Chicago in den Zwanzigern war ein ruheloser, dynamischer Riese, roh und ohne Manieren, mit einem gestiefelten Fuß noch in der rücksichtslosen Ära jener Industriemagnaten, die seine Geburtshelfer waren: William B. Ogden und John Wentworth, Cyrus McCormick und George M. Pullman. Es war ein Königreich, das den Philip Armours und Gustavus Swifts und Marshall Fields gehörte. Es war der Herrschaftsbereich kalter Berufsgangster wie Hymie Weiss und Scarface Al Capone.
Eine der frühesten Kindheitserinnerungen Catherine Alexanders war, wie ihr Vater sie in eine Bar, deren Boden mit Sägemehl bestreut war, mitnahm und sie auf den schwindelnd hohen Hocker schwang. Sie war fünf Jahre alt und erinnerte sich, wie stolz ihr Vater war, als Fremde um sie herumstanden, um sie zu bewundern. Alle diese Männer bestellten Getränke, und ihr Vater zahlte. Sie erinnerte sich, wie sie ihren kleinen Körper an seinen Arm gedrückt hatte, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Er war erst am Abend zuvor in die Stadt zurückgekehrt, und Catherine wusste, dass er bald wieder abfahren würde. Er war Handlungsreisender und hatte ihr erklärt, seine Arbeit führe ihn in ferne Städte, und manchmal müsse er monatelang von ihr und ihrer Mutter fort sein, damit er ihr hübsche Geschenke mitbringen könne. Catherine hatte verzweifelt versucht, ein Abkommen mit ihm zu treffen. Wenn er bei ihr bliebe, würde sie auf die Geschenke verzichten. Ihr Vater hatte lachend gesagt, sie sei ein frühreifes Kind, und war dann wieder weggefahren. Und es hatte sechs Monate gedauert, bis sie ihn wieder sah. In diesen frühen Jahren schien ihre Mutter, die sie täglich sah, eine verschwommene, gestaltlose
Person, während ihr Vater, den sie immer nur kurz sah, deutlich und wunderbar klar in ihrer Erinnerung stand. Catherine dachte an ihn als an einen gut aussehenden, lachenden Mann voll sprühenden Humors und freundlicher, hochherziger Gesten. Die wenigen Male, die er nach Hause kam, waren wie Feiertage, voller Vergnügungen und Geschenke und Überraschungen.
Als Catherine sieben war, wurde ihr Vater entlassen, und ihr Leben bekam einen anderen Zuschnitt. Sie verließen Chicago und zogen nach Gary, Indiana, wo er als Verkäufer in einem Juweliergeschäft tätig war. Catherine kam in ihre erste Schule. Sie hatte ein argwöhnisches Verhältnis auf Armeslänge zu den anderen Kindern und hatte Angst vor ihren Lehrern, die ihre einsame Unnahbarkeit als Dünkel missdeuteten. Ihr Vater kam jeden Abend zum Essen nach Hause, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Catherine, dass sie eine richtige Familie waren wie andere Familien. Sonntags gingen alle drei zum Miller Beach, mieteten sich Pferde und ritten ein oder zwei Stunden auf den Dünen. Catherine gefiel das Leben in Gary, aber sechs Monate nachdem sie hingezogen waren, verlor ihr Vater seine Anstellung wieder, und sie zogen nach Harvey, einer Vorstadt von Chicago. Das Schuljahr hatte schon angefangen, und Catherine war das neue Mädchen, von den Freundschaften ausgeschlossen, die sich bereits gebildet hatten. Sie wurde als Einzelgängerin bekannt. Im sicheren Schutz ihrer eigenen Gruppen überfielen die Kinder den schlaksigen Neuankömmling mit grausamem Spott.