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Scheiße!

Ron Peterson kam jeden Tag nach den Vorlesungen ins Roost und nahm seinen Stammplatz in der Nische in der gegenüberliegenden Ecke ein. Die Nische füllte sich schnell mit seinen Freunden und wurde zum Mittelpunkt ausgelassener Unterhaltungen. Catherine stand hinter der Theke neben der Registrierkasse, und wenn Ron eintrat, nickte er ihr freundlich und abwesend zu und ging weiter. Er redete sie nie mit ihrem Namen an. Er hat ihn vergessen, dachte Catherine.

Aber jeden Tag schenkte sie ihm, wenn er hereinkam, ein breites Lächeln und wartete darauf, dass er Hallo sagte, sie um ein Rendezvous, ein Glas Wasser, ihre Jungfernschaft oder was immer bat. Sie hätte genauso gut ein Möbelstück sein können. Wenn sie die anwesenden Mädchen mit absoluter Objektivität musterte, kam sie zu dem Schluss, dass sie hübscher war als alle, außer einer, der phantastisch aussehenden Jean-Anne, der Blondine aus den Südstaaten, mit der Ron am häufigsten gesehen wurde. Außerdem war sie bestimmt intelligenter als alle zusammen. Was also um Himmels willen stimmte nicht mit ihr? Warum bat kein einziger Junge sie um ein Rendezvous? Die Antwort sollte sie am nächsten Tag erhalten.

Sie ging eilig durch den Campus zum Roost hinüber, als sie

Jean-Anne und eine Brünette, die sie nicht kannte, über den Rasen auf sich zukommen sah.

»Ach, da ist ja Miss Geistreich«, sagte Jean-Anne.

Und Miss Dussel, dachte Catherine neidisch. Laut sagte sie: »Was für ein mörderisches Literatur-Quiz, nicht wahr?«

»Sei nicht so herablassend«, entgegnete Jean-Anne. »Du kannst genug, um den Literaturkurs abzuhalten. Und das ist noch nicht alles, was du uns beibringen könntest, nicht wahr, Süße?«

Etwas in ihrem Ton trieb Catherine die Röte in die Wangen.

»Ich – äh – verstehe nicht.«

»Lass sie in Ruhe«, sagte die Brünette.

»Warum denn?« fragte Jean-Anne. »Für wen zum Teufel hält sie sich eigentlich?« Sie wandte sich an Catherine. »Willst du wissen, was alle von dir sagen?«

Gott, nein. »Ja.«

»Du seiest eine Lesbierin.«

Catherine starrte sie ungläubig an. »Ich soll was sein?«

»Eine Lesbierin, Baby. Du täuschst niemanden mit deinem Heiligenschein-Getue.«

»Das – das ist lächerlich«, stammelte Catherine.

»Glaubtest du wirklich, du könntest die Leute zum Narren halten?« fragte Jean-Anne. »Fehlt bloß noch, dass du ein Schild um den Hals trägst.«

»Aber ich – ich habe nie«

»Die Jungs bringen ihn für dich hoch, aber du lässt sie ihn nie reinstecken.«

»Wirklich«, platzte Catherine heraus.

»Hau ab«, sagte Jean-Anne. »Du bist nicht unser Typ.«

Sie gingen weiter, und sie sah ihnen wie betäubt nach.

In jener Nacht lag Catherine schlaflos im Bett.

Wie alt sind Sie, MISS Alexander?

Neunzehn.

Haben Sie je Geschlechtsverkehr mit einem Mann gehabt?

Noch nie.

Mögen Sie Männer?

Natürlich, wer mag sie nicht?

Haben Sie je das Verlangen gehabt, eine Frau zu lieben?

Catherine dachte lange und intensiv darüber nach. Natürlich war sie gelegentlich in andere Mädchen verschossen gewesen, in Lehrerinnen, aber das war Teil ihrer Entwicklung gewesen. Jetzt überlegte sie, wie es wäre, mit einer Frau Zärtlichkeiten auszutauschen, eng umschlungen, ihre Lippen auf die einer anderen Frau gepresst, ihr Körper von weichen, weiblichen Händen liebkost. Es schauderte sie. Nein! »Ich bin normal«, sagte sie laut. Aber wenn sie normal war, warum lag sie dann hier, allein? Warum war sie nicht irgendwo draußen und ließ sich aufs Kreuz legen wie alle anderen in der Welt? Vielleicht war sie frigide. Vielleicht müsste sie sich operieren lassen? Eine Leukotomie wahrscheinlich.

Als sich der Himmel im Osten hinter dem Schlafsaalfenster zu lichten begann, waren Catherines Augen immer noch offen, aber sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde ihre Jungfernschaft verlieren. Und der Glückliche würde der Hans Dampf in jedem Mädchenbett sein – Ron Peterson.

Marseille-Paris

1919-1939

Sie wurde als Prinzessin geboren.

Ihre frühesten Erinnerungen gingen auf eine weiße, mit einem Spitzenhimmel versehene Korbwiege zurück, die mit rosa Bändern verziert und mit weichen Stofftieren und schönen Puppen und goldenen Klappern gefüllt war. Schnell merkte sie, dass, wenn sie den Mund auftat und aus Leibeskräften schrie, jemand eilends herbeikam, um sie zu halten und zu trösten. Als sie ein halbes Jahr alt war, fuhr ihr Vater sie im Kinderwagen in den Garten, ließ sie die Blumen anrühren und sagte: »Sie sind schön, Prinzessin, aber du bist schöner als alle von ihnen.«

Sie hatte es gern, wenn ihr Vater sie zu Hause in seinen starken Armen hochhob und an ein Fenster trug, wo sie hinausblicken und die Dächer der hohen Gebäude sehen konnte. Und dann sagte er immer: »Das ist dein Königreich da draußen, Prinzessin.« Er zeigte auf die Masten der in der Bucht vor Anker schaukelnden Schiffe. »Siehst du diese großen Schiffe? Eines Tages wirst du sie alle unter deinem Kommando haben.«

Gäste kamen manchmal ins Schloss, um sie zu sehen, doch nur wenigen war es erlaubt, sie zu halten. Die anderen starrten auf sie in ihrem Kinderbettchen hinunter und konnten sich nicht genugtun über ihre unglaublich feinen Gesichtszüge, ihr entzückendes blondes Haar, ihre zarte, honigfarbene Haut, und ihr Vater sagte ganz stolz: »Selbst ein Unerfahrener würde sofort sehen, dass sie eine Prinzessin ist!« Und dann beugte er sich über ihr Bettchen und flüsterte: »Eines Tages wird ein schöner Prinz kommen und dich fortführen.« Und er wickelte sanft die warme rosa Decke um sie, und sie versank in einen zufriedenen Schlaf. Ihre Welt war ein rosaroter Traum von Schiffen, hohen Masten und Schlössern, und erst mit fünf Jahren begriff sie, dass sie die Tochter eines Marseiller Fischhändlers war, dass die Schlösser, die sie vom Fenster ihres Mansardenzimmers sah, die Lagerhäuser am Rande des stinkenden Fischmarktes waren, wo ihr Vater arbeitete, und dass ihre Marine aus der Flotte der alten Fischerboote bestand, die jeden Morgen vor Sonnenaufgang ausfuhr und am Nachmittag zurückkehrte, um ihre übel riechende Fracht in die Hafendocks auszuspeien.

Solcherart war das Königreich Noelle Pages.

Noelles Vater wurde von seinen Freunden gewarnt, was er tue, sei falsch. »Du darfst ihr keine Phantastereien in den Kopf setzen, Jacques. Sie wird sich für etwas Besseres halten als andere.« Und ihre Prophezeiungen sollten sich bewahrheiten.

Oberflächlich betrachtet ist Marseille eine gewalttätige Stadt, von jener Art primitiver Gewalttätigkeit, wie sie in jeder Hafenstadt entsteht, die von hungrigen Seeleuten mit zuviel Geld und schlauen Räubern, die es ihnen wieder abnehmen, wimmelt. Jedoch unterscheidet sich das Volk von Marseille von den übrigen Franzosen dadurch, dass es ein Solidaritätsgefühl hat, das vom gemeinsamen Existenzkampf herrührt, denn das Herzblut der Stadt kommt vom Meer, und die Fischer von Marseille gehören zur Fischerfamilie der ganzen Welt. Sie haben gleichermaßen Anteil an den Stürmen und den ruhigen Tagen, den plötzlichen Katastrophen und den reichen Ernten.

So kam es, dass Jacques Pages Nachbarn sich über sein Glück, eine solch unwahrscheinliche Tochter zu haben, freuten. Auch sie erkannten das Wunderbare, dass aus dem Mist der schmutzigen, ordinären Stadt eine echte Prinzessin hervorgegangen war.

Noelles Eltern kamen gar nicht über das Wunder der auserlesenen Schönheit ihrer Tochter hinweg. Noelles Mutter war eine plumpe Frau mit groben Zügen, Hängebrüsten, dicken Schenkeln und breiten Hüften. Noelles Vater war untersetzt, hatte breite Schultern und die kleinen misstrauischen Augen eines Bretonen. Sein Haar hatte die Farbe des nassen Sandes an den Stranden der Normandie. Anfänglich hatte es ihm geschienen, als habe die Natur einen Fehler gemacht, als könnte dieses feine blonde Märchengeschöpf nicht wirklich ihm und seiner Frau gehören, und wenn Noelle älter würde, müsste sie ein gewöhnliches, hausbackenes Mädchen wie die anderen Töchter seiner Freunde werden. Aber das Wunder wuchs und gedieh weiter, und Noelle wurde jeden Tag schöner.