Larry sah, wie Catherine aufstand und zu dem brüchigen hölzernen Geländer am Rand des Abgrunds trat. Auf die Ellbogen gestützt, beugte sich Larry, plötzlich aufmerksam geworden, vor und beobachtete die auf Catherine zu treibende Wolke. Sie hatte sie nahezu erreicht und hüllte sie langsam ein.
»Ich werde mittendrin stehen«, rief sie ihm zu, »und sie direkt durchziehen lassen!«
Einen Augenblick später war Catherine in dem wirbelnden grauen Dunst verschwunden.
Leise erhob sich Larry vom Boden. Einen Augenblick lang blieb er regungslos stehen, dann bewegte er sich lautlos zu ihr hin. Sekunden später war er im Nebel untergetaucht. Er hielt inne, er wusste nicht genau, wo er sich befand. Dann hörte er vor sich ihre Stimme: »O Larry, das ist wunderbar, komm zu mir.«
Langsam bewegte er sich in der Richtung des Tons ihrer von der Wolke gedämpften Stimme. »Es ist wie ein milder Regen«, rief sie. »Kannst du es spüren?« Die Stimme war jetzt näher, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er machte einen weiteren
Schritt vorwärts, tastete mit ausgestreckten Händen nach ihr.
»Larry, wo bist du?«
Jetzt konnte er ihre Gestalt wahrnehmen, schattenhaft im Nebel, unmittelbar vor sich, dicht am Rand des Abgrunds. Seine Hände streckten sich nach ihr aus, und in diesem Augenblick zog die Wolke an ihnen vorüber. Sie drehte sich um, und sie standen einander gegenüber, kaum einen Meter voneinander entfernt.
Überrascht trat sie einen Schritt zurück, so dass ihr rechter Fuß unmittelbar am Rand des Abgrunds stand. »Oh, du hast mich erschreckt!« rief sie aus.
Larry trat einen weiteren Schritt auf sie zu, lächelte sie aufmunternd an und streckte beide Hände nach ihr aus. In diesem Augenblick vernahm er eine laute Stimme hinter sich, die sagte: »Alles, was recht ist, bei uns in Denver haben wir aber höhere Berge als den da.«
Erschrocken fuhr Larry herum. Sein Gesicht war weiß. Eine Gruppe Touristen mit einem griechischen Führer tauchte auf dem Pfad auf, der auf der anderen Seite des Berges heraufführte. Der Führer blieb stehen, als er Catherine und Larry sah.
»Guten Morgen«, sagte er überrascht. »Sie müssen auf der Ostseite heraufgestiegen sein.«
»Ja«, antwortete Larry knapp.
Der Führer schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Man hätte Ihnen sagen sollen, dass dieser Weg sehr gefährlich ist. Der andere Aufstieg ist viel leichter.«
»Das nächste Mal werde ich dran denken«, sagte Larry. Seine Stimme klang heiser.
Die Erregung, die Catherine an ihm beobachtet hatte, schien verflogen, als ob plötzlich ein Schalter ausgeknipst worden wäre.
»Sehen wir zu, dass wir hier fortkommen«, sagte Larry.
»Aber – wir sind doch gerade erst gekommen. Ist etwas los?«
»Nein«, entgegnete er schroff. »Ich hasse bloß Pöbelansammlungen.«
Sie nahmen den leichten Pfad bergab, und unterwegs sprach Larry kein Wort. Er schien von eiskalter Wut erfüllt zu sein, und Catherine wusste nicht, warum. Sie war überzeugt, dass sie nichts gesagt oder getan hatte, worüber er gekränkt sein konnte. Als die anderen Leute aufgetaucht waren, hatte sich sein Verhalten abrupt geändert. Plötzlich glaubte Catherine, den Grund für seine schlechte Laune erraten zu haben, und lächelte. Er hatte sie in der Wolke lieben wollen! Deshalb war er mit ausgestreckten Armen auf sie zugekommen. Und seine Absicht war durch die Touristengruppe vereitelt worden. Beinahe hätte sie vor Freude laut herausgelacht. Sie beobachtete Larry, der vor ihr den Pfad hinab schritt, und ein Gefühl der Wärme erfüllte sie. Ich werde es wiedergutmachen, wenn wir im Hotel sind, gelobte sie sich.
Doch als sie in ihren Bungalow zurückkehrten und sie die Arme um ihn legte und ihn küsste, wehrte Larry sie ab und sagte, er sei müde.
Noch um drei Uhr morgens lag Catherine wach in ihrem Bett, sie war zu erregt, um zu schlafen. Der Tag war lang und voller unerwarteter Ängste gewesen. Sie dachte an den Bergpfad und den schwankenden Steg und die Kletterei über den nackten Fels. Schließlich schlief sie doch ein.
Am nächsten Morgen ging Larry zum Empfangschef.
»Sie haben neulich von diesen Höhlen gesprochen«, sagte er.
»Ja«, antwortete der Empfangschef, »die Höhlen von Perama. Sehr farbig, sehr interessant. Sie dürfen Sie sich nicht entgehen lassen.«
»Ich werde sie mir wohl ansehen müssen«, sagte Larry leichthin. »Ich selbst mache mir nichts aus Höhlen, aber meine Frau hat von ihnen gehört und bedrängt mich ständig, mit ihr hinzugehen. Sie hat eine Vorliebe für abenteuerliche Unternehmen.«
»Ich bin überzeugt, sie werden Ihnen beiden gefallen, Mr.
Douglas. Versäumen Sie aber nicht, einen Führer zu nehmen.«
»Braucht man denn einen?« fragte Larry.
Der Empfangschef nickte. »Es ist unbedingt zu empfehlen. Es ist ein paar Mal zu Tragödien gekommen, weil Besucher sich verirrten.« Er senkte die Stimme. »Ein junges Paar ist bis auf den heutigen Tag noch nicht wieder gefunden worden.«
»Wenn es so gefährlich ist«, fragte Larry, »warum lässt man die Leute dann hinein?«
»Nur die neu entdeckten Teile sind gefährlich«, erklärte der Empfangschef. »Sie sind noch nicht ausreichend erforscht und haben keine Beleuchtung. Aber mit einem Führer brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
»Um welche Zeit werden die Höhlen geschlossen?«
»Um sechs.«
Larry fand Catherine im Freien unter einem riesigen Oxya-baum, der schönen griechischen Eiche, ausgestreckt. Sie las.
»Wie ist das Buch?« fragte er.
»Man könnte darauf verzichten.«
Er hockte sich neben sie. »Der Empfangschef hat mir etwas von Höhlen hier in der Nähe erzählt.«
Etwas alarmiert blickte Catherine auf. »Höhlen?«
»Er sagt, man müsste sie gesehen haben. Alle Hochzeitsreisenden gehen hin. Wenn man sich in den Höhlen etwas wünscht, geht der Wunsch in Erfüllung.« Seine Stimme klang jungenhaft und ungestüm. »Was hältst du davon?«
Catherine zögerte einen Augenblick. Sie dachte, was für ein kleiner Junge Larry in Wirklichkeit war. »Wenn du es gern möchtest«, antwortete sie.
Er lächelte. »Fein«, sagte er. »Wir gehen nach dem Mittagessen. Ich fahre schnell in den Ort, um etwas zu besorgen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein«, antwortete er, »ruh dich nur aus. Ich bin bald wieder da.«
Sie nickte. »Gut.«
Er drehte sich um und ging.
Im Ort fand Larry einen kleinen Gemischtwarenladen, in dem er eine Taschenlampe, Ersatzbatterien und ein dickes Knäuel Schnur kaufen konnte.
»Wohnen Sie im Hotel oben?« fragte der Ladenbesitzer, als er Larry das Wechselgeld herausgab.
»Nein«, antwortete Larry, »ich bin nur auf der Durchreise hier, auf dem Weg nach Athen.«
»An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig«, riet ihm der Mann.
Larry sah ihn scharf an. »Weshalb?«
»Es kommt ein Sturm auf, man kann die Schafe blöken hören.«
Um drei Uhr kehrte Larry ins Hotel zurück. Um vier Uhr machten Catherine und Larry sich auf den Weg zu den Höhlen. Ein böiger Wind war aufgekommen, und von Norden zogen große Gewitterwolken herauf, die bald die Sonne verdeckten.
Die Höhlen von Perama liegen dreißig Kilometer östlich von Ioannina. Im Lauf von Jahrhunderten hatten sich dort riesige Stalagmiten und Stalaktiten gebildet, die die Formen von Tieren und Säulen und Portalen angenommen hatten. Die Höhlen waren ein bedeutender Anziehungspunkt für Touristen.
Als Catherine und Larry ankamen, war es fünf Uhr, eine Stunde vor der Schließung. Larry kaufte an der Kasse zwei Eintrittskarten und eine Broschüre. Ein schäbig gekleideter Führer kam auf sie zu und bot seinen Dienst an.
»Nur fünfzig Drachmen«, beteuerte er, »und Sie bekommen von mir die beste Führung.«