»Wer ist denn jetzt Statthalter in Judäa?« fragte ich. »Ich sollte es allerdings selbst wissen, aber ich bin hier fremd. Ich komme aus Alexandria, wo ich den ganzen Winter über studiert habe.«
»Pontius Pilatus«, antwortete er und warf mir einen geringschätzigen Blick zu. Zweifellos hielt er mich für einen wandernden Sophisten.
Ich war überrascht. »Aber den kenne ich ja!« rief ich. »Zumindest mit seiner Frau bin ich in Rom bekannt geworden. Heißt sie nicht Claudia und mit dem Familiennamen Procula?«
Vor langer Zeit war ich einmal im Hause des Proculus eingeladen gewesen, wo ich mir eine langweilige Vorlesung aus einem Werk anhören mußte, das dartun sollte, wieviel die Familie in der Provinz Asia zum Besten Roms geleistet habe. Aber der Wein und was sonst geboten wurde, war ausgezeichnet, und mit Claudia Procula habe ich mich, obwohl sie beträchtlich älter ist als ich, angeregt unterhalten. Sie machte auf mich den Eindruck einer gefühlvollen Frau, und wir haben beide die Hoffnung ausgedrückt, einander einmal wiederzusehen. Das war keine bloße Höflichkeitsfloskel. Aber in Wirklichkeit haben wir uns aus dem oder jenem Grunde nie mehr getroffen. Mir kommt dunkel vor, daß sie erkrankt ist und Rom verlassen hat. Du, Tullia, bist wahrscheinlich zu jung, als daß Du Dich an sie erinnern könntest. Vor der Übersiedlung des Kaisers nach Capreae war sie öfter an seinem Hof.
Jetzt beeindruckte die Nennung des Namens mich derart, daß ich für eine Weile Zeit und Ort vergaß und mich in eine Rückschau auf meine Jugend und die ersten großen Enttäuschungen meines Lebens verlor. Der Offizier brachte mich in die Wirklichkeit zurück, indem er sagte: »Wenn du ein Bekannter des Prokonsuls, römischer Bürger und in dieser Stadt fremd bist, würde ich dir aufrichtig raten, dich in der Passahzeit auf den Umgang mit Römern zu beschränken. Während ihrer religiösen Feste sind die Juden immer außerordentlich fanatisch. Deshalb ist auch der Prokonsul von Cäsarea nach Jerusalem gekommen, um allfällige Unruhen im Keime zu ersticken. Vielleicht werden die Leute jetzt, wo sie die Kreuzigung des heiligen Mannes erreicht haben, sich beruhigen. Aber bei ihnen kennt man sich nie aus. Jedenfalls haben seine Anhänger sich verkrochen und dürften jetzt kaum Unfrieden stiften. Und der dort wird nicht mehr vom Kreuz heruntersteigen.«
Er ging um die Kreuze herum, blieb vor ihnen stehen, blickte aufmerksam den dornengekrönten König und die beiden Verbrecher an und erklärte mit sachverständiger Miene: »Der wird bald tot sein. Zuerst haben die Juden ihn mißhandelt, in der vorigen Nacht, als er gefangengenommen und vor ihren Rat gebracht wurde. Dann hat der Prokonsul ihn nach römischem Brauch geißeln lassen, damit das Volk Mitleid mit ihm hat oder wenigstens sein Tod beschleunigt wird. Du weißt ja, daß eine ausgiebige Geißelung vor der Kreuzigung ein Werk der Barmherzigkeit ist. Aber den beiden anderen werden wir die Knochen brechen müssen, damit sie frei, ohne die Füße aufstützen zu können, baumeln und noch vor dem Abend ersticken.«
In diesem Augenblick hörte ich ein ganz schreckliches Tiergeschrei, eine Art Wiehern, wie ich es noch nie vernommen hatte. Gleichzeitig lichtete sich das Dunkel ein wenig und wich einem gespenstigen roten Schimmer, so daß die Menschenmenge verängstigt hin und her wogte. Und nun bemerkte ich, daß mein Esel sich losgerissen hatte und, vollbeladen, wie er war, auf der Landstraße zurückgaloppierte, fort von Jerusalem. Einige Passanten fingen ihn ein und hielten ihn mit aller Anstrengung fest. Er streckte den Hals und iahte nochmals, in so schauerlichem Töne, als schrie er die Qual aller Kreatur hinaus. Ich lief zur Straße hinunter. Das Tier bockte jetzt nicht mehr, zitterte aber am ganzen Leibe und war in Schweiß gebadet. Ich tätschelte es und bemühte mich, es zu beruhigen; aber mein bisher so sanftmütiger Reisegefährte schnappte zornig und versuchte, mich zu beißen. Und einer der Männer, die den Esel eingefangen hatten; bemerkte, heute gebärdeten sich alle Tiere wie behext. Das komme manchmal vor, wenn der Wüstenwind blase.
Von seinem Platz am Stadttor kam der Obmann der Eseltreiber gelaufen, untersuchte das Zaumzeug und die Ohrkerben des Tieres und rief erbost: »Das ist einer unserer Esel. Was hast du dem Tier angetan? Wenn es krank wird und vertilgt werden muß, bist du ersatzpflichtig!«
Ich war selbst über das Verhalten des Tieres bestürzt; nie habe ich ein solches Geschöpf in einer derart merkwürdigen, schreckhaften Verfassung gesehen. Ich begann es abzuladen und sagte zu meiner Rechtfertigung: »Hier in Jerusalem ist alles wie verrückt. Ich habe dem Tier nichts getan. Scheu geworden ist es durch den Geruch von Blut und Tod, weil ihr euren König gekreuzigt habt.«
Aber unsere Auseinandersetzung wurde unterbrochen, und die Traglast fiel mir aus den Händen; denn in diesem Augenblick erfüllte ein seltsames Tönen die ganze Erde, wie ein tiefes Seufzen, und der Boden bebte unter meinen Füßen. Solche Dinge hatte ich schon erlebt, und ich glaubte nun zu verstehen, warum die Sonne sich verfinstert, warum die Tiere gebockt und warum ich selbst vor Angst gekeucht hatte. Mir wurde klar, daß es jetzt nicht besonders klug gewesen wäre, sich in die Stadt hinein und unter ein Dach zu begeben, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als mich auf ein Bett zu werfen, eine Decke über den Kopf zu ziehen und die Welt um mich her möglichst zu vergessen.
Ich gab dem Obmann der Eseltreiber einen Silberdenar und sagte: »Wir wollen doch nicht streiten – in einem solchen Augenblick, wo die Erde vor Angst zittert. Nimm meine Sachen in Verwahrung! Ich hole sie mir später bei dir am Stadttor ab.«
Mit Schlägen und Fußtritten versuchte der Mann, seinen Esel anzutreiben. Aber das Tier rührte sich nicht von der Stelle, und er mußte sich damit begnügen, ihm die Vorderbeine zu fesseln. Er nahm die Traglast auf seine eigenen Schultern und kehrte zu seinem Standplatz beim Tor zurück.
Ich weiß nicht, was mich stärker vom Betreten der Stadt abhielt: die Furcht vor dem Erdbeben oder ein zwingendes Verlangen, zu dem Hügel und den Gekreuzigten zurückzukehren, so grauenhaft mir auch der Anblick ihrer Leiden war. Im Herzen betete ich zu den Göttern, den bekannten und den noch unbekannten, und auch zu den für meinesgleichen auf ewig verschleierten Gottheiten: »Die Weissagungen habe ich aus eigenem Antrieb erforscht. Aber aus Alexandria geführt und genau zu dieser Stunde gerade an diesen Ort geleitet haben mich eure Zeichen. Ich bin hierhergekommen, um den König der künftigen Zeiten zu suchen, mich ihm zur Seite zu stellen und dafür Lohn zu finden. Laßt mich wenigstens soviel Seelenstärke aufbringen, ihm bis zu seinem Tode zu huldigen, auch wenn mir nun gar keine Belohnung zuteil wird.«
So stieg ich zögernd den Hang hinauf und mischte mich wieder unter die Zuschauer. Die Volksmenge hatte sich gelichtet, und weiter oben sah ich eine Gruppe von Frauen weinend stehen. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen, weil sie verhüllt waren. Nur ein junger Mann, dessen hübsche Züge von Angst und Qual verzerrt waren, hatte sich als Schützer und Tröster zu den Frauen gesellt. Ich fragte, wer sie seien. Der Diener eines Schriftgelehrten erzählte mir bereitwillig, sie hätten immer Jesus begleitet, schon von Galiläa her, wo er das Volk aufgewiegelt und gegen das Gesetz gefrevelt habe.
»Der junge Mann ist einer seiner Anhänger. Aber gegen ihn darf niemand einschreiten; er und seine Familie sind mit dem Hohenpriester bekannt, und er ist bloß ein irregeleiteter Jüngling«, erklärte der Diener. Dann wies er abschätzig mit dem Finger auf eine Frau, die der junge Mann stützte, und sagte: »Das ist, glaube ich, die Mutter des Aufrührers.«