Nach diesen Auskünften hatte ich nicht das Herz, zu der Gruppe hinzugehen und Fragen zu stellen, obwohl ich gerne etwas über diesen Jesus aus dem Munde seiner eigenen Gefolgsleute erfahren hätte. Aber der Gedanke, daß die eigene Mutter Augenzeugin des schmählichen Todes ihres Sohnes wurde, erfüllte mich mit Grauen. Selbst die Widersacher des Königs schienen so viel Achtung vor ihrer Seelenpein zu empfinden, daß sie die trauernden Frauen nicht behelligten.
Deshalb blieb auch ich stehen, wo ich war, mitten unter den Zuschauern, und die Zeit verging. Wiederum verdunkelte sich der Himmel, noch tiefer als zuvor, und die ausgedörrte, heiße Luft erschwerte das Atmen. Lästige Fliegen und Mücken hatten sich um die Augen und Wunden der Gekreuzigten gesammelt, und die an den Nägeln hängenden Leiber zuckten krampfhaft. König Jesus reckte sich nochmals an seinem Kreuz empor, öffnete die glasigen Augen, warf heftig den Kopf hoch und schrie laut: »Meine Kraft, meine Kraft, warum hast du mich verlassen?«
So verstand wenigstens ich die Worte, die mit derart entstellter Stimme gesprochen waren, daß man den Sinn kaum erfassen konnte. Die Zuschauer rückten hin und her und fragten einander, was der Mann gerufen habe. Einige meinten, er beklage sich darüber, daß Gott ihn verlassen habe; andere erklärten, er hätte sich an Elias gewandt. Elias soll ein jüdischer Prophet sein, der mit einem feurigen Wagen zum Himmel fuhr. Darum begannen die böswilligsten unter den Zuschauern, Jesus wiederum zu höhnen und riefen ihm, wenn ich sie richtig verstand, zu, er möge auch wie Elias in den Himmel auffahren. Aber die Erwartungsvollen und Wundergläubigen in der Menge flüsterten miteinander und schienen allen Ernstes zu hoffen, ihr Prophet Elias würde vom Himmel herabschweben und dem Judenkönig zu Hilfe eilen. Bei dieser Vorstellung wurde vielen so bange, daß sie voll heiliger Scheu von dem Kreuz zurückwichen und sich anschickten, ihre Gesichter zu verhüllen.
Wiederum sagte der König etwas, und die Zunächststehenden riefen, er klage über Durst. Ein gutherziger Mann eilte herbei, tränkte einen Schwamm in saurem Wein aus dem Lederschlauch der Soldaten, steckte den Schwamm auf eine Stange und hielt ihn dem Sterbenden an den Mund. Weder die Soldaten noch ihr Hauptmann behinderten diesen Liebesdienst. Ich weiß nicht, ob der Mann am Kreuz noch zu trinken vermochte; es war so dunkel geworden, daß man seine Züge nicht unterscheiden konnte. Jedenfalls wurden seine Lippen befeuchtet; denn seine Stimme tönte jetzt klarer, und selbst in diesem entsetzlichen Todeskampf klang in ihr etwas wie Erleichterung auf, als er sich nach einer kleinen Weile wieder auf die Füße stemmte und ausrief: »Es ist vollbracht.«
Von neuem begannen die Leute darüber zu streiten, was er gesagt hatte. Der eine behauptete dies, der andere jenes. Aber in der Finsternis hörte ich ein Knacken, als der Körper des Gekreuzigten an den ausgestreckten Armen niederglitt, während der Kopf auf die Brust sank. Dieses Geräusch klang ganz furchtbar in der Stille. Ich wußte, daß der Mann nicht mehr imstande sein würde, den Kopf wieder zu heben, und jetzt sterben mußte. Seinetwegen freute ich mich darüber; er hatte wahrhaftig genug gelitten, wie schwer er sich auch gegen die Gesetze seines Volkes vergangen haben mochte.
Daß er wirklich tot war, wurde mir zur Gewißheit, als die Erde wiederum aufstöhnte und unter meinen Füßen zu zittern begann. Ein dumpfes, unterirdisches Grollen, schwächer, aber unheimlicher als das Dröhnen eines Donnerschlags, drang zu mir herauf und entfernte sich dann stadtwärts. Ich hörte das Bersten eines Felsblocks und das Poltern herabkollernder Steine, und ich warf mich, wie alle anderen, zu Boden. Denn dieses Erdbeben war zwar kurz und zog rasch vorbei, doch es verbreitete überall panischen Schrecken.
Dann legte sich Totenstille über die Erde. Dieses tiefe Schweigen wurde erst durch das Hufgetrappel von Zugtieren unterbrochen, die sich auf der Straße losgerissen hatten. Langsam hellte sich der Himmel auf, der Tag wurde wieder verhältnismäßig licht. Die Leute erhoben sich mühsam und schüttelten den Staub von den Kleidern. Die Kreuze standen aufrecht; Jesus von Nazareth aber, der König der Juden, hing an seinen Armen, zermartert und zerquält, und atmete nicht mehr. Selbst die Soldaten standen auf, blickten scheu und verwundert zu dem Toten empor und flüsterten miteinander.
Der Zenturio gab wohl auch ihren Gefühlen Ausdruck, als er unerschrocken sagte: »Das war wirklich ein gerechter Mann.« Dann starrte er die eingeschüchterten Juden an, voll Zorn über sie und voll Abscheu über seine eigene Rolle, und bezeugte: »Wahrlich, dieser war Gottes Sohn!«
Ich aber rief mir die Weissagungen, die ich im Winter erforscht hatte, ins Gedächtnis, wunderte mich sehr und murmelte vor mich hin: »Friede sei mit dir, Herrscher der Welt, König der Juden! Dein Reich ist uns nun nicht zugekommen.«
In diesem gleichen Augenblick aber beschloß ich, so genau wie möglich herauszufinden, wie und warum all dies sich so zugetragen hatte und für welche Taten dieser Mann ans Kreuz genagelt und auf so schmähliche Art hingerichtet worden war, ohne daß jemand einen Finger zu seinem Schutze rührte. Offenbar mußten seine politischen Pläne sehr stümperhaft gewesen sein; auch dürfte er keinen in der Staatskunst erfahrenen Berater gehabt haben, was an sich verständlich ist, weil sich ja kaum ein halbwegs vernünftiger Mensch mit einem Juden zur Erlangung der Weltherrschaft zusammentun würde.
Nun kam die Sonne wieder hervor. Doch ihr Licht war noch immer ganz seltsam, und die von ihr beschienenen Gesichter der Menschen sahen bleich und gespenstisch aus. Ja, etwas will ich Dir gestehen, Tullia. Es muß an mir selber liegen, aber ich kann Dir den Judenkönig nicht beschreiben. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen und müßte mich seines Gesichtes, so verzerrt es von den entsetzlichen Qualen gewesen sein mochte, entsinnen können. Aber beim besten Willen vermag ich nicht mehr darüber zu sagen, als daß es von Schlägen blau und verschwollen und von der Dornenkrönung blutüberrieselt war. Indes muß in seinen Zügen etwas Erhabenes gelegen haben, da ich nach dem Lesen der Kreuzesinschrift keinen Augenblick daran zweifelte, daß er wirklich der Judenkönig war.
Jetzt, nachdem alles vorbei ist, sage ich mir, der Mann habe eine Art liebevoller Würde besessen; doch ich fürchte sehr, das sind Worte, die ich mir hinterher ausgedacht habe. Besser im Gedächtnis geblieben ist mir ein Ausdruck demütiger Entsagung, als Zeichen dafür, daß er sich willfährig in sein Schicksal ergeben hatte. Aber wie kann ein König, der von seiner Bestimmung zum Weltherrscher überzeugt ist, gelassen und gefügig zur Kenntnis nehmen, daß seine Mission gescheitert ist und daß er eines schmachvollen Todes sterben muß? Auch seine letzten Worte verfolgen mich. Was hatte er als vollbracht gewähnt? Oder bezog sich der Ausspruch bloß darauf, daß er die unmittelbare Nähe des Todes spürte?
Natürlich habe ich seine Gesichtszüge nicht als scharfer Beobachter gemustert; ich war ja selbst innerlich ganz aufgewühlt. Außerdem schien es, als hindere ein Gefühl der Ehrerbietung mich daran, während seiner Leiden genau hinzusehen. Dazu kam noch, daß es die ganze Zeit über ziemlich dunkel war, zeitweise so finster, daß man die Gekreuzigten kaum erkennen konnte. Als die Sonne wieder hervortrat, war Jesus tot, und jetzt verbot mir erst recht der Anstand, ihm schnöde in das leblose Antlitz zu starren.
Als der König gestorben war, hatten sich zahlreiche Leute entfernt, so daß nun rund um die Kreuze viel freier Raum lag. Auch die jüdischen Schriftgelehrten und Ältesten waren davongegangen, um sich für den Sabbat zu rüsten, und hatten nur einige Diener als Beobachter zurückgelassen. Einer der gekreuzigten Verbrecher begann in seiner Qual herzzerreißend zu jammern. Zwei mitleidige Frauen nahmen einen Krug, gingen zu dem Hauptmann und erbaten sich von ihm die Erlaubnis, dem schmerzgemarterten Mann noch etwas von dem mit einem Betäubungsmittel versetzten Wein zu reichen. Sie benützten den gleichen Schwamm und die gleiche Stange, wie sie zuvor verwendet worden waren, tauchten den Schwamm in den Krug und gaben beiden Missetätern zu trinken.