Nach dem Sonnenstand war schon die neunte Stunde vergangen. Der Zenturio fing an, ungeduldig zu werden; seine Hauptaufgabe war erledigt, und er wollte auch die beiden Räuber so bald als möglich tot wissen. In diesem Augenblick kamen von der Burg Antonia her zwei Männer, ein Soldat und ein Henkersknecht, der ein Brett trug. Mit sachkundigem Blick musterte der Henker Jesus und sah, daß er schon gestorben war; dann begann er gleichmütig, die Schienbeine der beiden anderen mit dem Brett zu zerschmettern. Das Krachen der splitternden Knochen war schrecklich anzuhören, und die beiden Opfer schrien und stöhnten; aber der Henker tröstete sie damit, es geschehe aus reiner Barmherzigkeit. Der Begleitsoldat, den ich Longinus nennen hörte, begnügte sich nicht mit dem Augenschein des Henkers, sondern stieß eine Lanze dem König in die Seite und durchbohrte ihm auf geschulte Art das Herz. Als er die Lanze zurückzog, rannen Blut und Wasser aus der Wunde.
Die Wachsoldaten begannen ihre Ausrüstungsstücke und auch die Kleider der Hingerichteten griffbereit hinzulegen; sie riefen sich Scherzworte zu, froh darüber, daß ihr lästiger Dienst zu Ende ging. Als aber das Schreien der gekreuzigten Räuber allmählich verstummte, benützten einige Hitzköpfe, die sich unter die Zuschauer gemischt hatten, die Gelegenheit zu römerfeindlichen Rufen. Die Soldaten gingen lässig gegen die Menge vor und drängten sie mit ihren Schilden zurück. Bei dem daraus entstandenen Handgemenge trug einer der Hetzer einen Kieferbruch davon. Das schüchterte die übrigen ein, und so machten sie sich aus dem Staube, drohten aber, sie würden, sobald sie Waffen zur Hand hätten, alle Römer und auch deren Handlanger im Tempel umbringen. Diese Unruhestifter waren, wie der Hauptmann mir erklärte, keine Anhänger Jesu, sondern nur Spießgesellen der beiden hingerichteten Verbrecher.
Der Offizier bemühte sich jetzt sichtlich, möglichst höflich zu mir zu sein; er trat näher an mich heran, entschuldigte sich wegen des kleinen Tumultes und gab der Hoffnung Ausdruck, daß ich bemerkt hätte, wie behutsam er die Sache beigelegt habe. Der Prokonsul habe den Truppen aufgetragen, Juden gegenüber nur im äußersten Notfall von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Bei gewöhnlichen Krakeelern lohne sich nicht einmal eine Verhaftung, weil sich dabei immer eine Menschenmenge zusammenrotte, dem Festgenommenen zur Burg folge und dort lärmend und aufbegehrend vor dem Tor lagere. Überhaupt seien Ruhestörungen möglichst hintanzuhalten, besonders an den jüdischen Feiertagen. Das sei gegenwärtig die Politik des Statthalters; zuerst allerdings habe er gewaltsamere Methoden versucht, mit ihnen jedoch nichts eingeheimst als Verdruß und sogar einen Rüffel von seiten Cäsars. Schließlich sagte der Hauptmann:
»Mein Name ist Adenabar. Sobald mein Dienst hier erledigt ist, nehme ich dich gern in die Burg mit und stelle dich dem Prokonsul vor, wenn ich mich zum Rapport melde. Es ist nicht ratsam für dich, allein durch die Stadt zu bummeln. Diese Halunken haben uns miteinander sprechen sehen und wissen, daß du kein Jude bist. Es würde nur Unannehmlichkeiten geben, wenn sie dich mißhandeln oder gar einen römischen Bürger umbringen sollten. Man müßte die Schuldigen ausforschen und bestrafen, und in dieser verdammten Stadt gibt es hunderttausend Schlupfwinkel.«
Er lachte und beeilte sich, seine Worte abzuschwächen. »Jedenfalls vermeiden wir damit überflüssige Schwierigkeiten. Aber abgesehen davon gefällt mir dein Gesicht, und ich habe Respekt vor gebildeten Leuten. Übrigens kann ich auch selbst lesen und schreiben; nur mein Latein steht auf etwas schwachen Füßen. In der Burg ist es zwar ziemlich beengt; aber ich denke, wir können dich noch anständig unterbringen.«
Der Prokonsul lebe sehr bescheiden, fügte er zur Erläuterung bei; und wenn er Jerusalem besuche, begnüge er sich meist damit, bei der Besatzung in der Antonia zu wohnen. Der mächtige Palast, den Herodes erbaut habe, wäre zwar eine unvergleichlich prächtigere Residenz; aber die Besatzung sei ein so kleiner Truppenkörper, daß der Statthalter sie nach einigen unangenehmen Erfahrungen nicht mehr auf zwei Standorte aufteilen wolle. Antonia sei eine unbezwingbare Festung, die den Tempelbereich beherrsche; und vom Tempelvorhof gingen stets alle Unruhen aus.
Adenabar wies mit dem Daumen hinter sich auf den Leichnam am Kreuze, lachte laut und sagte: »In meinem Leben habe ich nie etwas so Drolliges gesehen wie damals, als dieser Prophet Jesus sich aus Stricken eine Geißel knüpfte, die Taubenverkäufer aus dem Tempelvorhof trieb und die Tische der Wechsler umstieß. Damals trauten die jüdischen Ältesten sich nicht, ihm entgegenzutreten, weil ihn eine ganze Schar Anhänger begleitete. Als er damals auf einem Esel in Jerusalem einritt, waren die Leute derart außer sich vor Freude, daß sie ihre Kleider auf seinen Weg breiteten, Palmzweige schwenkten und ihn als Sohn Davids begrüßten. Nur durch diesen Gruß wagten sie ihm zu zeigen, daß sie ihn als ihren König betrachteten. Und tatsächlich war er von väterlicher ebenso wie von mütterlicher Seite ein Nachkomme Davids.«
Er wies mit einem verstohlenen Kopfnicken auf die Frauengruppe, die etwas unterhalb der Hügelkuppe geblieben war, und erklärte: »Dort ist seine Mutter.«
Als der Volksandrang abgeebbt war, hatten die Frauen sich auf den Boden gekauert, wie von übermächtiger Qual erschöpft. Aber nun verbargen sie nicht mehr ihre Gesichter; sie blickten zum Kreuz auf, und es fiel mir nicht schwer zu erraten, welche von ihnen Jesu Mutter war. Sie schien noch nicht alt, und in diesem Augenblick dünkte mich ihr Gesicht am schönsten unter allen, die ich je gesehen hatte. Es war zwar vom Schmerz wie versteinert, doch dabei irgendwie entrückt und zugleich unnahbar, ganz, als würden diese Lippen niemals mehr ein überflüssiges Wort sprechen. Diese Frau hatte es nicht nötig, ihre königliche Abkunft zu beweisen; ihr Gesicht war Zeuge genug, mochte auch ihre Kleidung so schlicht sein wie die der anderen Landfrauen.
Ich hätte gewünscht, ihre Begleiterinnen sollten sie von diesem Platz wegführen. Gern wäre ich selbst zu ihr hingegangen, um sie zu trösten und ihr zu sagen, ihr Sohn sei nun tot und brauche nicht mehr zu leiden. Aber so überirdisch schön und in Kummer versunken war ihr Antlitz, daß es mir unmöglich wurde, mich ihr zu nähern. Zu ihren Füßen kauerte am Boden eine andere Frau, deren schwärmerisches Gesicht wie im Fieber unablässig bebte und deren Augen nach dem Kreuze starrten, als hätte sie noch nicht ganz erfaßt, was geschehen war. Eine dritte Frau war älter als die beiden anderen. Ihre harten, stark jüdischen Züge drückten eher Zorn und Enttäuschung aus als Trauer. Es schien, als hätte sie bis zum letzten Augenblick ein Wunder erwartet und als könnte sie sich noch nicht mit der Tatsache abfinden, daß nichts dergleichen geschehen war. Die übrigen Frauen hielten sich im Hintergrund.
Meine Augen kehrten zu Jesu Mutter zurück, und ich blickte sie wie verzaubert an, ohne zu hören, was Adenabar sagte. Erst als er meinen Arm berührte, wich der Bann von mir. »Mein Auftrag ist nun durchgeführt, und ich gedenke nicht länger an diesem trübseligen Ort zu bleiben«, erklärte er. »Die Juden müssen sich selber darum kümmern, wenn sie nicht wollen, daß die Leichen den Sabbat über hängenbleiben. Uns Römer geht das nichts mehr an.«
Immerhin ließ er einige Soldaten als Wache bei den Kreuzen zurück. Daß er sich jetzt entfernte, geschah vermutlich auch dem Scharfrichter zuliebe, der es nicht wagte, ohne größeres Geleit in die Burg zurückzukehren, weil die Spießgesellen der Räuber ihm leicht unterwegs auflauern konnten. Die Straße lag jetzt leer da, und auch am Stadttor gab es keine Menschenansammlung. Aus den Häusern drang Bratengeruch bis zum Hügel; aber ich war alles eher denn hungrig.
Nach einem Blick auf die Sonne bemerkte Adenabar: »Bis zum Abend dauert es noch eine Zeitlang. Der jüdische Sabbat fängt erst an, wenn man drei Sterne am Himmel erkennen kann. Heute abend essen sie ihr Passahlamm; eine Sekte hat es allerdings schon einen Tag früher getan. Ihr Tempel ist jetzt ein großer Schlachthof. Gestern und heute hat man dort Tausende und aber Tausende Lämmer ausbluten lassen, wie das bei ihnen der Brauch ist. Von jedem Schlachttier bekommen die Priester ein Schulterstück und ihr Gott das Fett.«