Meine Habseligkeiten lagen noch wohlverwahrt beim Stadttor, und Adenabar befahl dem dort müßig hockenden Eseltreiber in barschem Töne, den Pack zu schultern und zur Burg zu tragen. Der Mann wagte nicht zu widersprechen. So machten wir uns auf den Weg nach Antonia; die eisenbeschlagenen Stiefel der Legionäre dröhnten im Marschtakt auf dem Pflaster. Offenbar waren die Soldaten sehr gut gedrillt; denn keiner schien unterwegs nennenswert atemlos zu werden. Mir dagegen ging, noch ehe wir die Festung erreichten, der Atem aus, weil die Straße stellenweise sehr steil war. Der Jude legte meine Sachen unter der Torwölbung hin und weigerte sich weiterzugehen. Ich gab ihm als Entgelt ein paar Münzen, obwohl Adenabar das als völlig überflüssig bezeichnete. Zum Dank für meine Freigebigkeit machte der Kerl in sicherer Entfernung vom Tore halt, schüttelte zornig die Faust und verfluchte laut alle Römer. Sobald aber die Wachtposten drohend ihre Speere hoben, verzog er sich schleunigst, und die Legionäre brüllten vor Lachen über den davonhastenden Mann.
Als wir das stattliche Steinpflaster des Festungshofes betraten, blieb Adenabar unschlüssig stehen und musterte mich von oben bis unten. Mir wurde bewußt, daß ich nicht besonders vertrauenerweckend aussah und in diesem Aufzug kaum vor dem Statthalter erscheinen konnte. Mochten der Hauptmann und ich uns an der Hinrichtungsstätte noch so gut verstanden haben, hier in diesem Hof herrschten römische Zucht und Ordnung, und ich atmete Kasernenluft. Dieser Geruch nach Metall, Leder, Reinigungsmitteln und Rauch ist nicht unangenehm; aber wenn man ihn in die Nase bekommt, schielt man unwillkürlich auf seine staubigen Schuhe und zupft die Mantelfalten zurecht. Hier im Hof stand auch der Altar der Legion, und ich grüßte ihn ehrerbietig. Nirgends jedoch sah ich ein Standbild des Kaisers.
Adenabar bemerkte zu mir, leider gebe es in der Burg nur wenige Waschgelegenheiten, weil mit dem Wasser gespart werden müsse. Aber er führte mich in den Offizierstrakt und trug den Sklaven auf, dafür zu sorgen, daß ich mich reinigen und umkleiden könne. Inzwischen wolle er zum Prokonsul gehen und ihm Meldung erstatten, erklärte er und versprach, dabei meine Ankunft zu erwähnen.
Ich zog mich aus, wusch und salbte mich und kämmte mir die Haare; dann schlüpfte ich in eine reine Tunika und warf mir den inzwischen ausgebürsteten Mantel um. Schließlich fand ich es auch angezeigt, meinen goldenen Daumenring anzustecken, den ich sonst gewöhnlich nicht trage, weil es mir zuwider ist, öffentlich unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Ich tat dies alles in Eile und begab mich dann wieder in den Hof, wo ich gerade zurechtkam, als der Prokurator Pontius Pilatus mit seinem Gefolge die Turmtreppe hinunterstieg. Er schien ungehalten: ein reicher Jude wünschte ihn zu sprechen, wollte aber, um sich nicht am Vorabend des Sabbat zu verunreinigen, keinesfalls weiter gehen als bis in den Burghof.
Offenbar handelte es sich um einen einflußreichen Mann, der mit den Römern auf gutem Fuße stand, da der Statthalter sich dazu herbeiließ, ihn derart in der Abenddämmerung zu empfangen. Ich trat näher und stellte mich zu den gaffenden Soldaten. Die Vorsprache hing mit den Ereignissen des Tages zusammen; gelassen und würdevoll bat nämlich der reiche alte Mann um Erlaubnis, den Leichnam des Nazareners vor Sabbatbeginn vom Kreuze abzunehmen und in seinem Garten, nahe der Hinrichtungsstätte, beizusetzen.
Pontius Pilatus fragte erst die Umstehenden, ob der Judenkönig tatsächlich tot sei, und sagte dann: »Mit diesem Mann haben wir schon genug Ärger und Verdruß gehabt. Meine Frau ist ganz krank von dem übertriebenen Getue. Nimm seinen Leichnam und schaffe ihn weg, damit ich nichts mehr mit dieser lästigen Sache zu tun habe!«
Der Jude gab dem Sekretär des Statthalters ein Geschenk und ging davon, mit ebensoviel Würde, wie er gekommen war. Erstaunt fragte Pilatus sein Gefolge: »Ist dieser Joseph von Arimathia nicht selbst Mitglied des Hohen Rates, der Jesus gekreuzigt haben wollte? Wenn der Verurteilte wirklich insgeheim über so mächtige Gönner verfügte, so hätten sie ihren Einfluß rechtzeitig geltend machen und uns ein Verfahren ersparen sollen, mit dem wir wenig Ehre einlegen.«
Adenabar gab mir ein Zeichen. Ich trat mit achtungsvollem Gruß vor, sprach Pilatus als Prokonsul an und nannte meinen Namen. Er erwiderte meinen Gruß ziemlich achtlos und sagte dann, um sein gutes Gedächtnis zu beweisen: »Ja, natürlich, natürlich! Ich kenne dich. Dein Vater ist der Astronom Manilius; aber auch mit der vornehmen Maecenas-Familie bist du verwandt. Für deine Ankunft in Jerusalem hast du dir allerdings einen ungelegenen Tag ausgesucht. Glücklicherweise hat wenigstens das Erdbeben in der Stadt keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Na, und diesen Jesus von Nazareth hast du auch mit eigenen Augen sterben sehen. Aber genug von ihm! In einem Jahr wird kein Hahn mehr nach ihm krähen.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Meine Frau wird sich sehr freuen, dich zu treffen. Sie ist etwas unpäßlich, wird aber bestimmt gern aufstehen, um mit uns zu speisen. Ich selber fühle mich auch nicht hervorragend. Mein alter Rheumatismus plagt mich wieder; und dabei bestehen meine Obliegenheiten in Jerusalem, wie du selbst siehst, hauptsächlich darin, steile Treppen auf und ab zu laufen.«
Trotz der Beschwerden, über die er klagte, bewegte er sich sehr lebhaft und mühelos und war von solcher Unrast erfüllt, daß er kaum stillstehen konnte. Er ist hager und bekommt eine Glatze, die er dadurch zu verdecken sucht, daß er sich die Haare über den Scheitel nach vorn kämmt. Seine Augen sind kalt und forschend. Ich wußte, daß seine Laufbahn anfangs keineswegs glänzend gewesen war; aber dank seiner Heirat hatte er sich schließlich doch den immerhin sehr einträglichen Posten eines Statthalters gesichert. Ein wirklicher Prokonsul ist er allerdings nicht, sondern untersteht dem Prokonsul von Syrien. Alles in allem dürfte er kein übler Mensch sein. Er kann mit trockenem Humor lächeln und sich über die eigene Person lustig machen. Ich glaube, er hat einen sehr wachen Sinn für seine Verpflichtung als Römer, unter streitsüchtigen Fremdvölkern Rechtlichkeit zu gewährleisten, und deshalb bedrückt ihn dieser Fall des Jesus von Nazareth in so starkem Maße.
Verbittert sagte er: »Ich könnte wetten, daß die Juden, sobald ich nur in meinen Gemächern oben bin, gleich wieder geschäftig mit irgendwelchen Feiertagsanliegen daherkommen und mich zwingen werden, von neuem in den Hof hinunterzurennen. Rom hat es leicht, mir Rücksichtnahme auf ihre Sitten und Gebräuche einzuschärfen; aber auf diese Weise werde ich mehr ihr Knecht als ihr Herr.«
Er begann, ruhelos im Hof hin und her zu gehen, gestattete mir aber durch eine Handbewegung, ihm zur Seite zu bleiben. »Hast du ihren Tempel schon gesehen?« fragte er mich. »Zum Vorhof haben auch wir Heiden freien Zutritt; aber in die Innenhöfe darf bei Todesstrafe kein Unbeschnittener seinen Fuß setzen. Man würde nicht glauben, daß wir hier im römischen Reich leben. Nicht einmal Cäsars Bildnis dürfen wir öffentlich aufstellen. Und die Androhung der Todesstrafe ist kein leeres Gerede; darüber haben wir traurige Erfahrungen. Manchmal setzt ein närrischer Reisender sich aus purer Neugier in den Kopf, sich als Jude zu verkleiden, um das verbotene Tempelinnere zu besichtigen, wo es übrigens gar nichts Besonderes zu sehen gibt. Im ärgsten Festestrubel mag er durchrutschen; doch wenn man ihn erwischt, wird er erbarmungslos gesteinigt. Dazu haben sie das Recht, und es ist keine angenehme Todesart. Ich hoffe, du trägst dich nicht mit derartigen Absichten.«
Dann erkundigte er sich behutsam, was es in Rom Neues gebe, und war sichtlich erleichtert, als ich ihm erzählte, ich hätte den Winter in Alexandria mit dem Studium der Philosophie verbracht. Daraus erkannte er, daß ich politisch ungefährlich war, und führte mich, zum Zeichen seiner Gewogenheit, sein Rheuma vergessend, in den zweiten Hof und auf den Wachtturm der Burg, von dem aus man den ganzen Tempelbezirk überblickt. Im Abendlicht bot sich der Tempel mit seinen vielen Höfen und stattlichen Säulenhallen den Augen als prachtvolles Bauwerk dar. Pilatus zeigte mir die Halle der Händler und Wechsler, den sogenannten Vorhof der Heiden, den Frauenhof und den Männerhof sowie schließlich das mitten im heiligen Gelände aufragende eigentliche Tempelgebäude, wo sich das Allerheiligste befindet, ein Raum, den sogar der Hohepriester nur einmal im Jahr betreten darf.