Ich erkundigte mich, ob die Erzählungen, im Allerheiligsten der Juden werde ein goldener Wildeselkopf verehrt, irgendeine Grundlage hätten. Auf diese tief eingewurzelte Meinung stößt man nämlich bei allen Völkern. Pilatus erklärte, daran sei nichts Wahres. Er versicherte mir: »Im Allerheiligsten befindet sich überhaupt nichts. Der Raum ist völlig leer. Als im früheren Tempel schon die Flammen wüteten, ging Pompeius mit einigen Offizieren hinter den Vorhang und fand dort gar nichts. Das ist eine feststehende Tatsache.«
Inzwischen waren wieder Leute gekommen, die den Statthalter sprechen wollten, und wir kehrten in den äußeren Hof zurück. Dort wartete, von jüdischen Tempelwächtern begleitet, ein Abgesandter des Hohepriesters und verlangte mit vor Übereifer quengelnder Stimme, die Leichen der Gekreuzigten sollten vor Tagesanbruch abgenommen werden. Pontius Pilatus stellte ihm anheim, abzunehmen, was noch abzunehmen war; der Form halber erörterten sie die Frage, ob das Sache der Juden oder der Römer sei, obwohl der Abgesandte sich offenbar schon auf die Übernahme der lästigen Aufgabe eingestellt und deshalb die Tempelwächter mitgenommen hatte. Sie gedachten die Leichen zum jüdischen Kehrichtplatz zu bringen und in das Feuer zu werfen, das dort Tag und Nacht zur Müllbeseitigung brennt.
Der Statthalter machte mit einiger Schärfe darauf aufmerksam, daß die Leiche des Jesus von Nazareth nicht angerührt werden dürfe, falls sie nicht schon, wie er jemand anderem gestattet habe, begraben worden sei. Das war keine erfreuliche Nachricht für den Abgesandten; aber er konnte darüber nicht zu rechten beginnen, da er bloß den allgemeinen Auftrag erhalten hatte, für die Entfernung der Leichen vor Sabbatbeginn zu sorgen. Er versuchte jedoch herauszubekommen, wer sich für Jesu Leichnam interessiert hatte, und wie und warum das geschehen war. Aber Pilatus wurde des Mannes überdrüssig, knurrte kurz: »Was ich gesagt habe, habe ich gesagt« und kehrte ihm den Rücken, zum Zeichen, daß die Unterredung zu Ende war. Also mußte der Jude sich samt seinen Tempelwächtern zurückziehen.
Ich bemerkte: »Noch als Toter scheint der Judenkönig Ungelegenheiten zu bereiten.«
Pontius Pilatus versank in tiefes Nachdenken und erwiderte dann: »Da hast du wohl recht. Ich bin ein erfahrener Mann und zerbreche mir im allgemeinen nicht zwecklos den Kopf. Aber dieses Fehlurteil verdrießt mich mehr, als ich gedacht hätte. Heute früh hat er, dieser Jesus, vor mir selber behauptet, er sei zwar der König der Juden, doch sein Reich sei nicht von dieser Welt. Daraus habe ich entnommen, daß er politisch harmlos war, und ich wollte nicht die Todesstrafe an ihm vollziehen lassen. Aber die Juden zwangen mich dazu.«
Er schlug mit der Faust gegen die Innenseite der anderen Hand und rief wütend: »Ja, wahrhaftig, ich bin das Opfer jüdischer Winkelzüge und Ränke. Mitten in der Nacht haben die Kerle den ihnen verhaßten Wanderprediger gefangengenommen und noch während der gleichen Nacht in aller Eile so viele Mitglieder des Hohen Rates zusammengetrommelt, daß die Stimmenzahl zu seiner Verurteilung reichte. Es fehlte nicht viel, so hätten sie ihn selbst gesteinigt, wegen Gotteslästerung. Sie haben zwar nicht das Recht, ein derartiges Todesurteil zu vollstrecken; aber solche Dinge sind schon vorgekommen, und dann haben sie sich jedesmal heuchlerisch damit herausgeredet, sie seien gegen den gerechten Zorn des Volkes machtlos gewesen. Aber diesmal haben sie das, offenbar aus Rücksicht auf dieses selbe Volk, nicht gewagt und fanden es wünschenswert, Rom in die Sache zu verwickeln. Ja, ich habe den Mann, weil er in Galiläa aufgewachsen ist und hauptsächlich dort gepredigt hat, zur Aburteilung zum jüdischen Tetrarchen von Galiläa geschickt. Aber dieser schlaue Fuchs, dieser Herodes Antipas, hat bloß seinen Spott mit ihm getrieben und mir ihn dann wieder zurückgeschickt, um die Verantwortung auf meinen Nacken abzuwälzen.«
»Was mag er wohl«, erlaubte ich mir zu fragen, »damit gemeint haben, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei? Ich bin nicht abergläubisch; Tatsache jedoch ist, daß bei seinem Tode die Erde bebte. Und der Himmel hat sich barmherzig verdunkelt, damit man sein Leiden nicht allzu deutlich sieht.«
Der Statthalter warf mir einen grimmigen Blick zu und fuhr mich in höchst unfreundlichem Töne an: »Ich hoffe, daß du als eben erst hier Hereingeschneiter nicht auch anfangen wirst, das wiederzukäuen, was meine Frau seit heute morgen ununterbrochen im Munde führt. Und den Zenturio Adenabar lasse ich einsperren, wenn er weiter von einem Sohne Gottes faselt. Diese syrische Legendengläubigkeit ist unausstehlich. Vergiß nicht, daß du Römer bist!«
Ich dankte meinem guten Stern, daß ich während des kurzen vertraulichen Gesprächs auf dem Turm nichts von den Weissagungen erwähnt hatte, derentwegen ich nach Jerusalem gereist war. Aber der Zornausbruch des Prokurators bestärkte mich in dem Entschluß, so tief wie möglich in die Hintergründe dieser ganzen Angelegenheit hineinzuleuchten. Für gewöhnlich nimmt sich ein römischer Statthalter die Kreuzigung eines jüdischen Volksaufwieglers nicht sehr zu Herzen. Dieser Judenkönig mußte ein ganz besonderer Mensch gewesen sein.
Pontius Pilatus begann die Treppe zu seinen Gemächern hinaufzusteigen, erklärte aber, er werde sich freuen, mich nach Einbruch der Dunkelheit beim Abendessen als Gast begrüßen zu können.
Ich kehrte in den Offizierstrakt zurück, wo man jetzt, nach Dienstschluß, im Speiseraum eifrig dem Weine zusprach. Judäa sei ein gutes Weinland, erzählten mir die Offiziere, und ich konnte ihrem Urteil nach einer Kostprobe nur beipflichten. Mit Wasser vermischt, ist dieser Wein erfrischend, bekömmlich und nicht zu süß.
Ich unterhielt mich mit Offizieren, Technikern und Fachbeamten der Legion, und es wurde mir bestätigt, daß der Statthalter tatsächlich widerstrebend und nur unter dem Druck der Juden deren König hatte kreuzigen lassen. Allerdings sei Jesus im Burghof gegeißelt und von den Soldaten verhöhnt worden, aber bloß zu ihrer Belustigung und weil es so Sitte ist. Nachher sei man willens gewesen, ihn freizulassen. Alle diese Männer hier schien ein Schuldgefühl zu bedrücken; denn sie bemühten sich durchwegs, den Hingerichteten zu verteidigen und die Verantwortung den Juden zuzuschieben. Das Erdbeben hatte tiefen Eindruck auf sie gemacht, und einige gaben, als sie trunken wurden, Geschichten zum besten, die sie von den Juden über Wundertaten des Königs gehört hatten. Er habe Kranke geheilt und böse Geister ausgetrieben; und erst vor ein paar Tagen habe er, nicht weit von Jerusalem, einen Toten, der schon seit mehreren Tagen im Grab lag, zum Leben erweckt.
Mir erschienen diese Geschichten als Musterbeispiele dafür, wie rasch sich um ein aufregendes Ereignis Legenden ranken. Ich konnte kaum ein Lächeln unterdrücken über die Bereitwilligkeit, mit der diese doch recht gebildeten Menschen solche breitspurig erzählten Albernheiten anhörten und glaubten. Jemand wußte sogar den Namen des aus dem ' Totenreich Zurückgekehrten zu nennen. Überdies wurde allen Ernstes behauptet, gerade diese Wiedererweckung – von der die Kunde sich in ganz Jerusalem verbreitet hatte – sei der letzte Anstoß dafür gewesen, daß die jüdische Obrigkeit den Wundertäter ums Leben zu bringen beschloß.
Als weiteres Beispiel jüdischer Unduldsamkeit erzählte der Kommandant einer für die Osterzeit vom Wüstenrand her nach Jerusalem beorderten Kameltreibertruppe, erst vor ein, zwei Jahren habe der Tetrarch Herodes von Galiläa die Enthauptung eines Propheten angeordnet. Dieser Mann habe in der Wüste gepredigt und viele Menschen dazu bewogen, sich im Jordan taufen zu lassen und so Bürger eines künftigen Reiches zu werden. Der Offizier hatte den Mann mit eigenen Augen gesehen; er trug einen Überwurf aus Kamelhaar und aß kein Fleisch.