Der Sekretär kam zurück, und Pilatus forderte ihn, zum Beweis seines Vertrauens uns gegenüber, auf, in unserer Gegenwart seinen Bericht zu erstatten. Offenbar waren die Spione, die der Statthalter unter den Juden hielt, nach Einbruch der Dunkelheit in die Burg zurückgeschlichen und hatten ihre Beobachtungen gemeldet. Der Sekretär erzählte uns folgendes:
»Das Erdbeben hat unter den jüdischen Priestern große Bestürzung hervorgerufen, weil dabei der Tempelvorhang von oben bis unten entzweiriß. Der Mann, der den Nazarener verraten hat, kam heute wieder in den Tempel und warf den Gottesdienern die dreißig Silberstücke, die er bekommen hatte, vor die Füße. Im Hause des Hohenpriesters herrscht helle Empörung, seit an den Tag kam, daß zwei Mitglieder des Synedriums, Joseph und Nikodemus, den Leichnam Jesu vom Kreuze nehmen und in einem neu aus dem Felsen gehauenen Grab in der Nähe des Hinrichtungsplatzes bestatten ließen. Nikodemus hat dazu das Grablinnen beigestellt und auch hundert griechische Pfund einer Mischung von Myrrhe und Aloe. Ansonsten ist es in der Stadt ruhig, und der Vorabend des Passahfestes wurde in gewohnter Weise begangen. Die Anhänger Jesu haben sich zerstreut wie verwehte Asche. Der Rat hat folgende Parole ausgegeben: ›Es ist besser, ein einziger Mensch stirbt für das Volk, als daß die ganze Nation zugrunde geht.‹ Dadurch hat sich die Lage in der Stadt entspannt. Jedenfalls redet niemand mehr laut über den Gekreuzigten. Die abergläubische Volksverehrung, die er genoß, scheint sich zu verflüchtigen, nachdem er kein Wunder gewirkt hat, sondern eines schmachvollen Todes gestorben ist.«
Der Sekretär blickte uns an, räusperte sich, lachte kurz auf und fuhr fort: »Dann ist da noch eine Sache, die ich nicht einmal der Erwähnung wert gefunden hätte, wäre sie mir nicht von zwei verschiedenen Seiten hinterbracht worden. Er, dieser Jesus, soll nämlich angekündigt haben, er werde am dritten Tag nach seinem Tode auferstehen. Woher die Geschichte stammt, konnte ich nicht herausbekommen. Aber auch im Hause des Hohenpriesters ist sie bekannt; dort berät man darüber, wie man sich da vorsehen könnte.«
»Was habe ich gesagt!« rief Claudia Procula triumphierend.
Der Sekretär beeilte sich richtigzustellen: »Ich meine natürlich nicht, daß die Priester tatsächlich an eine solche Möglichkeit glauben. Aber die Anhänger des Gekreuzigten könnten versuchen, den Leichnam zu stehlen, um dann einfältigen Leuten etwas vorzumachen. Deshalb ärgert es die Priester und die anderen Ratsmitglieder, daß die Leiche nicht, wie es mit den beiden anderen Missetätern geschah, am Müllplatz verbrannt wurde.«
Pilatus murmelte erbittert: »Darauf hätte ich mich eigentlich gefaßt machen müssen, daß dieser Mann mich nicht einmal als Toter ruhig schlafen lassen würde.«
Er geriet über dieses alberne Gerücht in derartige Bestürzung, daß er Adenabar und mich beiseite nahm und sich nochmals den Tod den Judenkönigs bestätigen ließ. Wir waren Augenzeugen seines Sterbens gewesen und hatten auch beobachtet, wie der Soldat seine Lanze in das Herz des Leblosen gestoßen hatte. Darum beteuerten wir beide: »Dieser Mann hat am Kreuze sein Leben ausgehaucht und wird bestimmt kein Glied mehr rühren.«
Nach dem Mahle verbrachte ich eine unruhige Nacht.-Der Wein und alles, was ich erlebt hatte, rumorte mir im Kopf, so daß ich trotz meiner Müdigkeit schlecht schlief und böse Träume hatte. Auch das trunkene Gegröle aus der Offiziersmesse störte mich die ganze Nacht über. Schließlich weckten mich, sobald der Morgen graute, Hornrufe, die vom Tempelbezirk her kamen und über die ganze Stadt schallten. Augenblicklich fiel mir wieder ein, was ich am Vortag gesehen und gehört hatte. Von neuem begann ich, über den Judenkönig und sein Reich nachzugrübeln.
Um meine Gedankengänge zu klären und mir alles so zu vergegenwärtigen, wie ich es mitgemacht hatte, setzte ich mich zum Schreiben hin und schrieb ununterbrochen, bis Adenabar hereinkam, mit verquollenen Augen und noch einigermaßen benebelt. Er forderte mich auf, hinunterzukommen und mir etwas Unterhaltsames anzusehen. Und in der Tat, im Hofe stand, obwohl es Sabbat war und noch dazu ein ganz großer Sabbat, eine Abordnung des Rates und der Priesterschaft, die den Statthalter sprechen wollte. Pilatus ließ die Leute eine Zeitlang warten und schalt sie dann mit bitteren Worten wegen all der Ungelegenheiten, die man ihm bereitete.
Aber die Leute waren wirklich verängstigt und beteuerten, der letzte Betrug würde ärger sein als der erste, wenn es den Anhängern Jesu gelänge, seinen Leichnam aus der Grabkammer zu stehlen; dann würden sie überall ausposaunen, er hätte seine Ankündigung wahr gemacht und wäre am dritten Tag von den Toten auferstanden. Deshalb baten und beschworen sie den Statthalter, für ein paar Tage eine Legionärswache – ihren eigenen Wächtern trauten sie nicht ganz – vor das Grab zu stellen und für alle Fälle überdies am Grufteingang sein persönliches Amtssiegel anbringen zu lassen, das zu verletzen kein Jude wagen würde.
Pilatus nannte sie alte Weiber und Schwachköpfe und verspottete sie mit den Worten: »Mir scheint, ihr fürchtet euch vor dem Toten noch mehr als vor dem Lebenden.«
Doch sie versprachen, ihm gleich nach dem Sabbat reiche Geschenke zu schicken. Am Sabbat sei es ihnen als Juden verboten, etwas bei sich zu tragen. Schließlich gab Pilatus nach und entsandte zwei Soldaten sowie den Legionsschreiber zum Grab. Der Schreiber erhielt den Auftrag, den Grufteingang zu versiegeln, jedoch nicht mit dem Siegel des Statthalters, sondern mit dem der zwölften Legion, das den Juden wohl genügen werde. Er gab Weisung, während der Nacht sollte die Wachmannschaft nach Ermessen des Wachkommandanten auf vier oder acht Personen verstärkt werden; er wußte ja, daß zwei römische Legionäre allein sich nachts außerhalb der Stadtmauern nie sicher fühlen konnten.
Ich hatte die Empfindung, daß etwas Bewegung mir guttun würde, und so begleitete ich den Schreiber zu dem Grabe. An der Hinrichtungsstätte ragten noch düster die blutbefleckten Kreuzespfähle auf, während die Querbalken bei der Abnahme der Leichen entfernt worden waren. Nicht weit davon befand sich ein schöner Garten und darin ein in einen Felshöcker gehauenes Grab. Den Eingang dazu verstellte ein großer Mühlstein, der aufrecht in einer Bodenrille stand. Ihn wegzurollen hätte zwei kräftige Männer erfordert, und der Tag war heiß. Der Schreiber fand es nicht nötig, das Grab öffnen zu lassen, da die jüdischen Wächter ihm versicherten, niemand habe hier etwas angerührt, seit die beiden treulosen Ratsmitglieder Joseph und Nikodemus den Stein durch Diener vorwälzen ließen.
Während der Schreiber den Eingang versiegelte, schien mir ein starker Myrrhenduft aus dem Grabe zu dringen. Aber es mochten auch nur Gartenblumen gewesen sein, die rings um mich so würzig rochen. Die beiden Legionäre machten rohe Späße über ihre Aufgabe; aber sie waren sichtlich froh darüber, daß sie ihren Wachdienst bei Tage hatten und abends abgelöst werden sollten.
Auf dem Rückweg wollte ich den Judentempel besuchen; ich trennte mich deshalb von dem Schreiber, der mir noch sagte, in den äußeren Hof könne ich ungefährdet gehen. Ich querte auf einer Brücke das Tal, aus dem der heilige Hügel aufstieg; durch einen mächtigen Torbogen betrat ich, zusammen mit einer großen Menge anderer Besucher, den Vorhof der Heiden. Seit dem Morgen strömten aus der Stadt Leute herbei; noch immer aber war Platz im Hofe, und ich bewunderte seine Säulenhallen. Auf die Dauer jedoch wurden der endlose Singsang und das laute Beten, der Geruch der Opfer und die leidenschaftliche Verzückung der Juden mir zuwider. Ich dachte an den Leichnam des Gekreuzigten, der in der kalten Felsengruft lag, und mein ganzes Mitgefühl gehörte dem Judenkönig, so wenig ich von ihm wußte.
Ich kehrte zur Burg Antonia zurück, und schreibe nun schon bis tief in die Nacht hinein, um meine traurigen Gedanken loszuwerden. Aber ich fühle mich jetzt keineswegs erleichtert, Tullia, denn diesmal habe ich während des Schreibens nicht wie sonst Deine Nähe gespürt.
Für mich ist die Geschichte des Judenkönigs jedenfalls noch nicht zu Ende. Ich sehne mich danach, mehr über sein Reich zu erfahren, und ich habe mir schon verschiedene Möglichkeiten ausgedacht, wie ich mit seinen Anhängern Verbindung aufnehmen könnte, um von ihnen zu hören, was er im Laufe seines Lebens gelehrt hat.