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Marcus Mezentius Manilianus an Tullia.

Als Briefanfang habe ich meinen Namen hingeschrieben und den Deinen, Tullia. Aber wenn ich den eigenen Namen auf dem Papyrus sehe, muß ich mich verwundert fragen, ob tatsächlich ich es bin, der da schreibt, oder ob es irgendein Fremder in mir ist. Ich bin nicht mehr der gleiche wie früher; und manchmal argwöhne ich während dieser längsten Tage meines Lebens, jüdische Zauberkunst hätte mich verhext. Wenn sich all das wirklich so zugetragen hat, wie ich es zweifelnd und prüfend sich zutragen sah, dann habe ich entweder Dinge erlebt, die sich nie zuvor ereignet haben, oder ich werde auch viele Berichte, die uns durch Philosophen und Skeptiker seit langem als sinnbildlich gemeint dargelegt wurden, wörtlich glauben müssen.

Ich weiß noch nicht, ob ich mich je dazu aufraffen werde, Dir dieses Schreiben zu senden. Auch meine beiden früheren Briefrollen liegen noch immer unabgeschickt hier. Und vielleicht ist es gut so; denn wenn Du jemals diese Zeilen lesen solltest, würdest Du Dich kaum des Eindrucks erwehren können, der arme Marcus habe den letzten Rest seines Verstandes verloren. Aber ich selbst halte mich nicht für einen Phantasten, obwohl ich seit jeher – mit stets wachem Argwohn und kritisch abwägendem Sinn – nach etwas in dieser Welt gesucht habe, das jenseits aller Freuden der Sinnlichkeit und auch der Tugenden liegt. Ich gestehe, daß ich infolge meiner Abkunft als junger Mann zu allerlei Maßlosigkeit neigte und nie den Mittelweg des wirklich Weisen zwischen Enthaltung und Sinnentaumel finden konnte. Solche Maßlosigkeit lag in meinen Nachtwachen, Fasten und körperlichen Übungen während der Schulzeit in Rhodos. Maßlos wurde auch meine Liebe zu Dir, Tullia; auch darin war ich unersättlich.

Trotz allem liegt, das kann ich Dir versichern, im Grunde meines Wesens etwas Kühles, Beobachtendes, das mich vor der Selbstzerstörung bewahrt. Ohne diesen nüchternen Wächter hätte ich kaum Rom verlassen; eher hätte ich meinen Besitz und vielleicht selbst mein Leben verwirkt, als mich von Dir zu trennen. Jetzt, während ich schreibe, ist dieser Wächter ganz besonders rege; die ganze Zeit über bemühe ich mich nämlich auseinanderzuhalten, was ich selbst gesehen, was ich bloß gehört habe und was ich in ausreichendem Maße als schlüssig bewiesen betrachten kann.

Es drängt mich, meine Erlebnisse genauer aufzuzeichnen, auch wenn ich diese Briefe Dir nie schicken sollte. Ich werde auch viel Überflüssiges einbeziehen, weil ich noch nicht zwischen dem Belanglosen und dem Wesentlichen unterscheiden kann. Aber ich glaube, ich bin Zeuge der Herabkunft eines Gottes auf unsere Welt geworden. Diese Behauptung wird natürlich jedem, der die Dinge nicht selbst miterlebt hat, als Wahnwitz erscheinen. Für den Fall jedoch, daß ich mit meiner Meinung recht habe, mögen sich späterhin die geringsten Kleinigkeiten als bedeutungsvoll erweisen. Nimm das als Rechtfertigung dafür, daß ich so viele Worte mache! Denn falls meine Annahme zutrifft, wird diese Welt sich wandeln oder hat sich schon gewandelt – und ein neues Zeitalter ist angebrochen.

Indes bleibt mein Wächter rege und warnt mich, Dinge zu glauben, die bloß Ausgeburten meiner eigenen Erwartungen sein könnten. Aber hätte ich je etwas so Unvorstellbares erwarten können? Nein. Es wäre mir unmöglich gewesen, etwas Derartiges zu ersinnen oder zu erträumen. Wenn ich überhaupt an etwas Bestimmtes dachte, so an ein neues Reich auf dieser Erde; aber von derlei kann überhaupt keine Rede sein. Es handelt sich um etwas anderes, mir noch Unverständliches.

Ich sage mir selbst vor, daß ich, vielleicht aus bloßer Eitelkeit, geneigt bin, mehr in die Dinge hineinzudeuten, als sie wirklich enthalten. Wer bin denn ich, Marcus, daß gerade mir solches widerfahren sollte? Ich gebe mich keinen Täuschungen über meine Bedeutung hin. Andererseits kann ich nicht meine eigenen Erlebnisse verleugnen. Darum erzähle ich sie.

Als ich meinen vorigen Brief beendet hatte, war es spät geworden. Meine Finger krampften, und zuerst konnte ich nicht einschlafen. Dann schlief ich fest, aber nur kurze Zeit; denn noch vor dem Morgengrauen weckte mich ein zweites Erdbeben, das länger und unheimlicher war als das erste. Das Klirren zerbrochener Tonkrüge und das Poltern von den Wandgestellen fallender Schilde riß alles in Antonia aus den Betten. Unter meinen Füßen schwankte der Steinboden so heftig, daß ich beim Verlassen des Zimmers der Länge nach hinfiel. Die Wachen im Hof bliesen Alarm. Ich konnte nur die Manneszucht der Legionäre bewundern; denn trotz ihrer Schlaftrunkenheit und der Finsternis rannte keiner der Soldaten ohne Waffen hinaus, obwohl ihr erster Gedanke gewesen sein mußte, sich vor einsturzgefährdeten Dächern ins Freie zu retten.

Es war noch so dunkel, daß im Hof Fackeln angezündet werden mußten. Als der erste Wirrwarr und Trubel sich legten, stellte man fest, daß zwar die Mauern an einigen Stellen Risse abbekommen hatten, jedoch kein Todesopfer in der Festung zu beklagen war. Nur einige harmlose Verstauchungen, Beulen und Wunden wurden gemeldet; und sogar diese Verletzungen rührten eher von dem Gehaste in der Dunkelheit her als von dem Erdbeben selbst. Der Festungskommandant schickte unverzüglich Patrouillen in die Stadt, um festzustellen, ob Schäden entstanden waren, und ließ die Legionsfeuerwehr alarmieren. Oft richten ja die nach Erdbeben ausbrechenden Brände mehr Unheil an als die Bodenerschütterungen selbst.

Der Prokurator kam geradewegs aus dem Bett ins Freie, hatte nur einen Mantel umgeworfen und stand barfuß auf der Treppe, ohne in den Hof hinunterzugehen oder seine Stimme in die Kommandorufe zu mengen. Da die Erdstöße sich nicht wiederholten und von der Stadt her die ersten Hahnenschreie ertönten, hielt er es nicht für nötig, die Frauen aus der Festung hinaus in Sicherheit bringen zu lassen. Indes verspürte nach diesem Schreck begreiflicherweise niemand Lust, sich nochmals ins Bett zu legen. Der Himmel wurde lichter, und sobald die Sterne verblaßten, schmetterten vom Judentempel wiederum die mächtigen Hornrufe, zum Zeichen dafür, daß die gottesdienstlichen Verrichtungen begannen, als wäre nichts geschehen.

Die Soldaten wurden aus der Alarmaufstellung entlassen und zu ihren regelmäßigen Obliegenheiten zurückgeschickt, erhielten aber nur kalte Verpflegung, da die Köche vorsichtshalber noch keine Feuer anzünden durften. Eine Patrouille nach der anderen kehrte zurück, und alle meldeten, in der Stadt herrsche zwar große Bestürzung und Verwirrung, viele Leute seien in das offene Gelände außerhalb der Stadt geflohen, doch bis auf ein paar zusammengestürzte Hausmauern sei kein ernstlicher Schaden entstanden. Offenbar hatte sich das Erdbeben auf einen ganz kleinen Bereich, hauptsächlich auf die Gegend der Festung und des Tempels, beschränkt.

Die Wachen wurden abgelöst, und mit bloß geringfügiger Verspätung marschierte die erste Kohorte durch die Stadt zum Exerzieren in das Amphitheater. In diesem kostspieligen Gebäude werden seit Jahren keine Gladiatorenkämpfe oder Tierhetzen mehr veranstaltet; die Arena dient ausschließlich als Truppenübungsplatz.

Am Boden liegende Scherben von Tongefäßen zertretend, ging ich in mein Zimmer zurück, wusch mich und kleidete mich sorgsam an. Während ich noch damit beschäftigt war, kam ein Bote und forderte mich auf, zum Prokonsul zu kommen. Pontius Pilatus hatte sich am Fuß der Treppe einen Stuhl für die Audienz des Tages hinstellen lassen. Obwohl nichts an seiner Miene irgendwelche Besorgnis vor einer Wiederkehr des Erdbebens verriet, glaube ich doch, daß auch er ganz gern im Freien saß.

Vor ihm standen der Festungskommandant und der Legionsschreiber, ferner Adenabar und zwei Legionäre, die nach syrischer Art beim Reden zur Unterstützung ihrer Aussagen und Erklärungen heftig gestikulierten, während sie sich gleichzeitig bemühten, aus Ehrerbietung vor ihrem Oberbefehlshaber Haltung zu bewahren. Der Statthalter wandte sich gereizt zu mir und sagte: