»Am Morgen hat sich wegen des Erdbebens die Wachablösung verzögert. Diese beiden syrischen Tölpel hätten als neue Wache an dem verwünschten Grab dort drüben aufziehen sollen. Sechs Soldaten waren dort die ganze Nacht, und es sollten immer zwei Dienst tun, während die anderen schliefen. Jetzt sind die beiden Syrer zurückgekommen mit der Meldung, das Legionssiegel sei erbrochen, der Stein vom Grufteingang weggewälzt und die abzulösende Wachmannschaft spurlos verschwunden.«
Er wandte sich an die Legionäre und fuhr sie an: »War der Leichnam noch im Grab?«
Die beiden Einfaltspinsel antworteten wie aus einem Munde: »Ins Grab sind wir nicht gegangen. Dazu hatten wir keinen Auftrag.«
Pilatus fragte: »Warum ist nicht wenigstens einer von euch dort geblieben, während der andere mit seiner Meldung zurücklief? Jetzt kann jeder, der nur will, in die Grabkammer hinein.«
Ohne Ausflüchte gestanden sie: »Wir hätten uns keiner getraut, allein an diesem Ort zu bleiben.«
Der Festungskommandant fühlte sich verpflichtet, für seine Leute einzutreten, weil die letzte Verantwortung ihn traf. Er sagte kurz: »Die Soldaten haben strengen Befehl, außerhalb der Burg immer nur paarweise aufzutreten.«
Aber von den Mienen der beiden Legionäre konnte ich leicht ablesen, daß sie nicht um ihr Leben gebangt hatten; was sie erschreckt und mit abergläubischem Grauen erfüllt hatte, war sichtlich das offene Grab gewesen und das Verschwinden ihrer Kameraden. Der Statthalter schien der gleichen Ansicht zu sein; denn er sagte in ungestümem Töne:
»An dem, was sich da zugetragen hat, ist nichts Übernatürliches. Den Stein vom Grabe weggeschoben hat selbstverständlich das Erdbeben. Die Wachtposten, diese abergläubischen syrischen Feiglinge, haben sich ihrem Dienst entzogen und wagen nicht zurückzukommen. Man muß sie als Fahnenflüchtige verfolgen; sie haben strengste Bestrafung verdient.«
Er wandte sich zu mir und erklärte: »Hier geht es um die Ehre der Legion, und ich kann mich deshalb auf niemanden, der ihr angehört, verlassen. Andererseits wünsche ich keine Beschönigungsversuche welcher Art immer. Was wir brauchen, ist eine unparteiische Zeugenschaft. Du, Marcus, bist ein aufgeklärter Mensch und hinreichend gesetzeskundig. Nimm Adenabar und diese beiden Soldaten mit dir – meinetwegen könntest du die ganze Kohorte als Bedeckung mit haben, zur Absperrung und Bewachung des Geländes, damit nicht auch noch diese beiden Helden durchgehen – und stelle am Grab selbst fest, was geschehen ist! Dann komm zurück und berichte mir!«
Sofort rief der Festungskommandant laut nach seinem Hornisten. Das machte den Statthalter noch zorniger, als er schon war; er schlug mit der Faust auf seine Handfläche und schrie: »Seid ihr denn samt und sonders von Sinnen? Das mit der Kohorte war doch nicht ernst gemeint. Ihr braucht nur einige verläßliche Männer. Es wäre verrückt, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen und so diese für uns schmähliche Angelegenheit erst recht an den Tag zu bringen. Jetzt aber macht euch gefälligst auf die Beine!«
Adenabar wählte rasch zehn Mann aus, ließ sie im Hof antreten und dann im Laufschritt abmarschieren. Pilatus mußte Halt gebieten und uns klarmachen, daß ein Eilmarsch durch die Stadt das beste Mittel war, uns eine ganze Schar neugieriger Juden an die Fersen zu heften. Ich war froh über diese Mahnung; denn, ungeübt, wie ich jetzt bin, hätte ich, auch ohne Gepäck, kaum mit rasch marschierenden Legionären Schritt halten können, obwohl wir keinen weiten Weg hatten.
Unterwegs trafen wir viele Leute, die wegen des Erdbebens aus der Stadt geflohen waren und nun zurückkehrten. Aber sie hatten an ihren eigenen Gedanken genug, und wir fielen nicht weiter auf. Die Juden vergaßen sogar, hinter den Legionären auszuspucken und ihnen die üblichen Fluchworte nachzurufen.
Der Garten des Joseph von Arimathia entzog das Grab zum Teil unseren Blicken; doch schon aus einiger Entfernung konnten wir sehen, daß aus der offenen Gruft zwei Juden kamen. Zweifellos waren es Anhänger des Nazareners; denn in dem einen glaubte ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit den stattlichen jungen Mann zu erkennen, den ich am Hinrichtungshügel die trauernden Frauen beschützen sah. Der andere war ein stämmiger, bärtiger, rundköpfiger Mann. Als sie uns bemerkten, ergriffen sie die Flucht und waren bald, obwohl wir sie riefen, wie vom Erdboden verschwunden.
»Da haben wir jetzt die Bescherung!« wetterte Adenabar, schickte aber niemanden den beiden nach. Er fand es klüger, unsere Kräfte nicht zu verzetteln, zumal er wußte, daß die Juden in diesem Gewirr von Gärten und Hürden, Kuppen und Hohlwegen jeden Verfolger in die Irreführen konnten.
Aber wir hatten immerhin genug gesehen, um sicher zu sein, daß die beiden Männer nichts weggetragen hatten.
Als wir die Grabstätte erreichten, stellten wir fest, daß der Stein offenbar durch sein eigenes Gewicht den Rand der Bodenrille ausgebrochen hatte und von der Gruft weg auswärts umgekippt sein mußte; dann war er den Hang hinuntergeglitten, bis er an einen Felsblock prallte und zerschellte. Wir konnten keine Spuren der Anwendung von Werkzeugen entdecken. Jeder, der etwa das Grab von außen öffnen wollte, hätte den Stein, wie es bezweckt war, in der Bodenrille zur Seite gerollt. Von dem abgerissenen Legionssiegel baumelten nur noch Schnurstücke am Rande der Gruftöffnung. Zweifellos hatte das Erdbeben den Stein losgerüttelt. Aus dem dunklen Grabesinneren drang ein starker Geruch nach Myrrhe und Aloe in die feuchte Morgenluft.
»Geh du voraus, ich komme nach«, bat Adenabar. Er war grau im Gesicht vor Angst und zitterte am ganzen Leibe. Die Legionäre hatten in respektvollem Abstand vom Grabe haltgemacht und drängten sich zusammen wie ein Häuflein Schafe.
Wir traten hintereinander in den Vorraum und dann durch eine schmälere Öffnung in die eigentliche Gruftkammer. Solange unsere Augen sich an die Dunkelheit nicht gewöhnt hatten, konnten wir die weißen Totenlinnen auf der Steinbank nur verschwommen erkennen. Anfangs meinten wir beide, der Leichnam liege ohnedies noch an Ort und Stelle. Als wir jedoch allmählich deutlicher sahen, stellten wir bald fest, daß der Körper aus seiner Umkleidung geglitten und verschwunden war. Die harzgesteiften Hüllen zeigten noch die Umrisse des Rumpfes, der darin gelegen hatte; davor bauschte sich, durch einen kleinen Spalt getrennt, das Schweißtuch, das über den Kopf gebreitet worden war.
Zuerst traute ich meinen Augen nicht und schob die Hand zwischen Körperhülle und Schweißtuch. Ich griff ins Leere; der Tote lag nicht mehr da. Aber das Linnen war nicht auseinandergewickelt, sondern nur etwas eingesunken und wahrte weiterhin die Körperformen. Es wäre unmöglich gewesen, den Leichnam zu entfernen, ohne die Hüllen zu öffnen. Und doch hatte er sich spurlos verflüchtigt. Unser eigener Augenschein bezeugte es.
Adenabar flüsterte: »Siehst du das gleiche wie ich?«
Meine Zunge gehorchte mir nicht. Ich nickte bloß. Wieder flüsterte er: »Habe ich nicht gesagt, er war ein Gottessohn?«
Dann ermannte er sich, unterdrückte sein Zittern, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »So ein Zauberkunststück habe ich im Leben noch nicht gesehen. Es ist vielleicht am besten, wir bleiben vorläufig die einzigen Zeugen dieses Geschehnisses.«
Übrigens hätten selbst Drohungen die mit uns gekommenen Legionäre kaum dazu gebracht, das Grab zu betreten; derart großer Schreck hatte sich ihrer bemächtigt, darüber, daß ihre Kameraden auf rätselhafte Weise verschwunden waren, ohne daß man in der Umgebung irgendwelche Spuren eines Kampfes entdecken konnte.
Adenabar und ich brauchten einander nicht zu erklären, daß kein menschliches Wesen imstande sein konnte, aus versteiften Grablinnen zu schlüpfen, ohne sie zu sprengen. Und wenn andererseits diese so fest durch Myrrhe und Aloe verklebten Tücher auseinandergerissen worden wären, hätten wir bestimmt Anzeichen dafür bemerkt. Ich glaube, nicht einmal die geschickteste Hand hätte sie nachher so zurechtlegen können, daß sie wieder die Körperformen nachbildeten.