In der Bibliothek gibt es auch Schriften über die Liebeskunst, bei deren Lektüre unser guter Ovid sich wie ein Waisenknabe vorgekommen wäre. Einige davon sind griechischen Ursprungs, andere stellen Übersetzungen alter ägyptischer Bücher ins Griechische dar, und ich weiß wirklich nicht, welchen der Vorzug gebührt. Aber wenn man ein paar dieser Bücher gelesen hat, bekommt man bald genug von ihnen. Seit den Tagen des göttlichen Augustus werden diese Werke in besonderen Geheimräumen verwahrt, und man darf sie nicht abschreiben. Auch das Lesen ist nur zu Forschungszwecken gestattet.
Um jedoch auf die Prophezeiungen zurückzukommen – es gibt da alte und neue. Die alten hat man schon auf Alexander bezogen und jetzt selbstredend auch auf Cäsar Augustus, der die Welt befriedet hat. Aus den verschiedenen Deutungen dieser Vorhersagen wird mir immer klarer, daß es für einen Gelehrten keine größere Versuchung gibt als die, solche Sprüche im Lichte seiner eigenen Zeit und seiner eigenen Erwartung zu sehen.
Trotzdem bin ich von einem überzeugt, und alles, was wir selbst erlebt haben, bestärkt nur diese Überzeugung, die sogar von den Sternen bekräftigt wird: die Welt tritt in eine neue Ära, deren Zeichen sie von allen vergangenen Zeitaltern unterscheiden. Diese Tatsache ist so klar und augenscheinlich, daß Astrologen in Alexandria und Chaldäa, Rhodos und Rom sich darüber einig sind; ihnen allein scheint es natürlich und sinnvoll, mit dem Sternbild der Fische die Geburt eines Weltherrschers in Verbindung zu bringen.
Vielleicht ist damit Cäsar Augustus gemeint, der in den Provinzen schon bei Lebzeiten als Gott verehrt wurde. Aber wie ich Dir in Rom erzählte, hat mein Pflegevater Marcus Manilius in seinem Werke ›Astronomica‹ eine Konjunktion von Saturn und Jupiter in den Fischen erwähnt. Bei der Herausgabe seines Buches hat er zwar diesen Hinweis aus politischen Gründen gestrichen; aber auch in Ägypten beziehen die Sterndeuter sich auf diese Konstellation. Allerdings müßte der künftige Weltherrscher, wenn er damals zur Welt gekommen wäre, jetzt siebenunddreißig Jahre alt sein, und inzwischen hätte man sicherlich etwas von ihm gehört.
Du wirst Dich wohl darüber wundern, daß ich jetzt so offen, in einem Briefe, auf etwas zu sprechen komme, was ich Dir, als in Baiae die Rosen blühten und ich glaubte, niemand in der Welt verstünde mich so gut wie Du, Tullia, eines Morgens als tiefstes Geheimnis ins Ohr geflüstert habe. Aber jetzt bin ich erfahrener und kann zu solchen Prophezeiungen als erwachsener Mann Stellung nehmen. Ein halbblinder Greis in der Bibliothek hat spöttisch zu mir bemerkt, Vorhersagen seien etwas für junge Leute. Wenn man einmal tausend Bücher gelesen habe, beginne einem eine niederschmetternde Wahrheit aufzudämmern; nach dem zehntausendsten werde man trübsinnig.
Auch aus einem anderen Grunde schreibe ich offen, und zwar deshalb, weil heutzutage ohnedies niemand etwas geheimzuhalten vermag. Selbst das vertraulichste Gespräch kann belauscht und weitererzählt werden, und es gibt keinen Brief, den nicht ein Unberufener lesen und nötigenfalls abschreiben könnte. Wir leben in einer Zeit des Mißtrauens, und ich bin zu dem Schluß gelangt, daß man am besten durchkommt, wenn man freimütig spricht und schreibt, genau so, wie man denkt.
Dank der letztwilligen Verfügung, von der Du weißt, bin ich so wohlhabend, daß ich mir alles Nötige leisten kann, aber nicht so reich, daß es sich verlohnte, mich umzubringen. Infolge meiner Abkunft kann ich mich um kein Staatsamt bewerben, und ich würde es auch gar nicht wünschen. Diese Art von Ehrgeiz ist mir fremd.
Ostwärts wiesen mich die Sterne. Um mich loszuwerden, hast Du, falsche Tullia, mich dazu beredet, Rom zu verlassen, weil ich Dir lästig geworden bin. Habe ich nicht schon seinerzeit voll trotziger Verwegenheit geschworen, den künftigen Weltbeherrscher ausfindig zu machen, weil es hoch an der Zeit sei, daß er kommt? Ich wollte einer seiner ersten Gefolgsleute sein; ich wollte in seinen Dienst treten und seinen Sold nehmen, um eines Tages würdig zu sein, Dein vierter oder fünfter Gatte zu werden. Wie mußt Du mich innerlich ausgelacht haben!
Sei übrigens unbesorgt! Nicht einmal dieses mein Vorhaben wird irgendwen veranlassen, mir nach dem Leben zu trachten. Vorderhand hat man keinerlei Anzeichen für einen Weltherrscher gesehen oder gehört. So etwas wäre sofort bekannt geworden, besonders in Alexandria, dem Nabel der Welt, dem Mittelpunkt allen Klatsches und Ränkespiels und aller Philosophie. Nebenbei bemerkt, auch Tiberius selbst kennt diese Konjunktion von Jupiter und Saturn vor siebenunddreißig Jahren. Und jener Mann, dessen Name in einem Brief nicht erwähnt zu werden braucht, weiß ebenfalls von all dem. Aber er ist fest davon überzeugt, daß dieser König nicht aus dem Osten kommen wird.
Tullia, Geliebte, mir ist sehr wohl bewußt, daß dieses Studium der Weissagungen für mich nur ein Lückenbüßer war, bloß ein Mittel, um von Dir wegzudenken. Wenn ich morgens erwache, bist Du mein erster Gedanke, wenn ich abends einschlafe, mein letzter. Ich habe von Dir geträumt und lag Deinetwegen wach. Keinem Manne ersetzt eine Bücherrolle die Frau, die er liebt.
Aus den Prophezeiungen bin ich an die heilige Schriften der Juden geraten. In Alexandria wirkt ein jüdischer Philosoph namens Philo, der diese Schriften symbolisch deutet, wie Griechen und Römer es mit Homer tun. Er meint, die jüdische Religion derart, mit Hilfe der griechischen Philosophie, verständlich machen zu können.
Du kennst die Juden und ihren Glauben. Auch in Rom sondern sie sich ja ab und opfern unseren Göttern nicht. Deshalb empfinden manche Leute ehrfürchtige Scheu vor ihnen, und eine Anzahl Familien hat schon die Sitte übernommen, jeden siebenten Tag nach Judenart als Ruhetag zu halten. Im allgemeinen jedoch verachtet man die Juden, weil sie nur einen einzigen Gott haben und von ihm, soviel man weiß, nicht einmal ein Abbild besitzen.
Jedenfalls ist in ihren heiligen Büchern eine Weissagung von den ältesten Zeiten her lebendig geblieben: sie bezieht sich auf einen künftigen Weltherrscher. Ihre Propheten haben sie mehrfach wiederholt, so daß sie unter allen Vorhersagen am getreulichsten überliefert ist. Den erwarteten Weltherrscher nennen sie Messias. Sobald er zur Macht gelangt, werden die Juden, so erhoffen sie sich, über die gesamte Erde gebieten. Diese Anmaßung entspringt zweifellos den Wunschträumen des ganzen Volkes, dessen Schicksal so unglücklich und beschämend war: eine Zeit der Sklaverei in Ägypten und dann eine ähnliche Knechtschaft in Babylon, bis die Perser ihnen die Rückkehr in ihre Heimat gestatteten. Auch ihr Tempel ist einigemal zerstört worden, erst jüngst wieder durch Pompeius, obwohl das unabsichtlich geschehen sein mag. Sie unterscheiden sich von anderen Völkern auch dadurch, daß sie bloß einen einzigen Tempel haben; er steht in ihrer heiligen Stadt, in Jerusalem. Die Synagogen, die sie allerwärts besitzen, sind keine Tempel, sondern Versammlungshäuser, wo sie ihre heiligen Schriften gemeinsam in lautem Gesänge rezitieren und einander auslegen.
Diese Weissagung, unter den Juden werde ein Weltkönig geboren werden, durch den sie dereinst die ganze Erde beherrschen würden, trägt ihnen viel Haß ein. Darum rühmen sie sich nicht mehr ihres Wissens, sondern behalten es im allgemeinen bei sich und schließen sich von anderen Völkern ab.
Andererseits machen sie aus der Prophezeiung kein Geheimnis. Wenn ihre Gelehrten einem Fremden wirkliches Interesse anmerken, helfen sie ihm bereitwillig bei der Ergründung ihrer heiligen Schriften. Zumindest in Alexandria verhält es sich so. Manche Autoritäten, darunter Philo, legen die Messiasverkündung als Gleichnis aus; andere jedoch haben mir versichert, sie sei buchstäblich aufzufassen. Ehrlich gesagt, man müßte wohl von Kind auf in ihrer Religion aufgewachsen sein, um diesen vieldeutigen Schriften irgendwelchen wirklichen Glauben entgegenzubringen. Im Vergleich mit den verworrenen Wahrsagereien der übrigen Welt muß ich allerdings gerade die erwähnte jüdische Prophezeiung als die klarste anerkennen.