Sobald ich das voll begriffen hatte, überkam mich ein Gefühl tiefen Friedens, und ich hatte nicht mehr die geringste Angst. Adenabar schien Ähnliches zu empfinden. Woher jedoch unsere Furchtlosigkeit kam, könnte ich keineswegs erklären, hatten wir doch eben erst ein Wunder festgestellt, über das wir nach allen Maßstäben unserer menschlichen Logik heftiger hätten erschrecken müssen als je im Leben. Völlig gelassen traten wir aus dem Grabe und teilten den Legionären mit, daß der Leichnam verschwunden war.
Die Soldaten zeigten nicht die geringste Lust, in das Grab zu treten und sich von dem Sachverhalt zu überzeugen; wir hätten sie auch gar nicht hineingelassen. Einige entsannen sich jetzt, daß es um die Ehre der Legion ging, begannen umherzublicken und wiesen darauf hin, daß auch von zwei alten, aus dem gleichen Felsen gehauenen Gräbern die Steine weggerollt waren. Offenbar sei gerade hier das Erdbeben am heftigsten gewesen – ein Umstand, der mich persönlich nicht überraschte. Sie schlugen vor, wir sollten aus einem der alten Gräber einen Leichnam nehmen und anstelle des Judenkönigs hinlegen. Ich verbot ihnen in schroffem Ton, an solche Schliche auch nur zu denken.
Während wir noch überlegten, was wir tun sollten, tauchten aus einem Gebüsch zwei Legionäre auf und kamen zögernd heran. Adenabar erkannte sofort, daß sie zu den vermißten Ausreißern gehörten, und schrie ihnen zornig zu, sie sollten die Waffen niederlegen. Aber die beiden begannen sich leidenschaftlich zu verteidigen; sie beschworen, sie hätten ihre Pflicht genau erfüllt und die Grabstätte von einem sicheren Platz aus fest im Auge behalten. Tatsächlich hatte niemand angeordnet, wie nahe dem Grab sie stehen müßten.
Sie berichteten: »Wir beide und zwei andere schliefen, während die beiden übrigen Wache standen, als in den ersten Morgenstunden das Erdbeben losging. Dieser Stein hier löste sich vom Grabe und kam mitten zwischen uns gesprungen. Wir können von Glück reden, daß niemand zermalmt wurde. Daraufhin zogen wir uns – noch immer in Sichtweite – etwas zurück, weil wir neue Erdstöße befürchteten. Vier von uns liefen weg, um den Hohenpriestern zu erzählen, was geschehen war; den Juden zuliebe haben wir ja das Grab bewacht, und nicht im Interesse der Legion.«
Sie rechtfertigten sich mit solchem Übereifer, daß man schon daraus den Eindruck gewann, sie redeten nicht frei von der Leber weg. Unter anderem sagten sie noch: »Später haben wir zwar zwei Gestalten als Ablösung kommen sehen. Trotz ihrer Rufe zeigten wir uns aber nicht, weil wir die Rückkehr unserer Kameraden abwarten wollten, mit denen wir gemeinsam, einer für alle und alle für einen, das Grab bewachten. Wenn in dieser Sache etwas aufzuklären ist, so werden wir das alle sechs im Einvernehmen tun und uns vorher darüber besprechen, was wir sagen sollen und was nicht.«
Adenabar und ich fragten sie aus und erfuhren, sie hätten bei Tagesanbruch zwei bündeltragende Jüdinnen bemerkt, die sich zum Grabe schlichen. Vor dem Eingang hätten sie gezögert; eine sei dann eingetreten, aber bald wieder herausgekommen. Gerade in diesem Augenblick sei die Sonne aufgegangen und habe die Augen der Soldaten geblendet; doch eines könnten sie beeiden: daß nichts hinein- oder herausgetragen worden sei. Ihre Bündel hätten die Frauen draußen hingelegt, dann aber wieder genommen und damit eilends das Weite gesucht, obwohl die Soldaten nichts gegen sie unternommen hätten.
Knapp vor unserem Eintreffen seien zwei Juden, auch in Eile, hier aufgetaucht; zuerst ein Jüngling, der sich aber nicht allein in das Grab getraut, sondern nur durch die Öffnung gespäht habe, und kurze Zeit später ein atemloser älterer Mann, der gleich eingetreten sei, worauf auch sein Begleiter sich dazu aufgerafft habe, ihm zu folgen. Zweifellos seien sie von den Frauen herbeigeholt worden, hätten aber nur kurz in der Gruft verweilt und nichts hinausgetragen. Die Soldaten versicherten uns, sie hätten die beiden Männer von ihrem Versteck aus genau im Auge behalten, um sie sofort festzunehmen, falls sie den Leichnam zu stehlen versuchten.
»Wir sind ja hierher beordert worden, um den Leichnam zu bewachen, und das haben wir nach bestem Wissen und Gewissen vorschriftsmäßig getan. Nicht einmal durch das Erdbeben ließen wir uns vertreiben. Wir haben uns nur in sichere Entfernung vom Grabe zurückgezogen«, erklärten sie wie aus einem Munde.
Aber ich beobachtete sie scharf und entnahm ihren Mienen und unsteten Blicken, daß sie etwas verhehlten. »Jedenfalls ist der Leichnam weg!« bemerkte ich barsch.
Daraufhin begannen sie auf syrische Art mit den Händen umherzufuchteln und riefen: »Dafür können wir nichts. Wir haben die Gruft keinen einzigen Moment lang aus den Augen gelassen.«
Mehr war aus ihnen nicht herauszubringen. Außerdem wurde das Verhör dadurch unterbrochen, daß jetzt von der Stadt her die vier anderen Wachsoldaten kamen, in Begleitung dreier jüdischer Ältester, die von weitem an ihren Kopfbedeckungen zu erkennen waren. Als die vier Legionäre ihre beiden Kameraden im Gespräch mit uns sahen, schrien sie ihnen schon aus ziemlich großer Entfernung warnend zu: »Hütet eure Zungen und plappert nicht darauf los! Die Sache ist schon mit den Juden vollkommen bereinigt. Wir haben alles einbekannt, und sie waren so verständig, unseren Fehler nachzusehen.«
Die drei Juden waren offenbar Ratsmitglieder; denn als sie herankamen, grüßten sie uns würdevoll und sagten: »Wir erscheinen hier recht spät. Aber zuerst wollten wir rasch den Rat zusammenberufen und die Sache unter uns besprechen. Die Legionäre haben das Grab für uns auf unser Ansuchen bewacht, und wir wünschen nicht, daß sie für ihren Unverstand bestraft werden. Wie konnten sie ahnen, daß die Jünger dieses verdammten Nazareners so hinterlistig sein würden? Wir haben die Sache einvernehmlich beigelegt und lassen die Wachsoldaten in Frieden gehen. Und geht jetzt auch ihr in Frieden! Weder wir noch die Römer haben hier noch etwas zu tun. Die Nachlässigkeit ist nun einmal geschehen, und wir wollen es dabei bewenden lassen, um Aufsehen und überflüssiges Gerede zu vermeiden.«
Ich entgegnete: »Nein, nein. Für diese Angelegenheit ist römisches Heeresrecht zuständig, und wir müssen eine regelrechte Untersuchung durchführen. Der Leichnam eures Königs ist verschwunden, und diese Wachmannschaft trägt die Verantwortung dafür.«
Sie fragten: »Wer bist du? Wie kommst du dazu, uns ins Wort zu fallen? Du bist glattwangig und noch ein junger Mann. Du solltest Rang und Alter hochachten. Wenn die Sache schon erörtert werden muß, so wollen wir das mit dem Statthalter tun und nicht mit dir.«
Aber nach dem Anblick, der sich mir eben in der Grabkammer geboten hatte, fühlte ich nur Widerwillen gegen diese schlauen Alten, die ihren König verurteilt und den Prokurator gezwungen hatten, ihn kreuzigen zu lassen. Deshalb beharrte ich auf der Feststellung:
»Euer König ist aus dem Grab verschwunden, und dieser Fall muß mit aller Gründlichkeit untersucht werden.«
Aufgebracht wandten sie ein: »Er war nicht unser König. Er hat sich nur so genannt. Und untersucht haben wir den Fall schon selbst. Törichterweise haben die Wachsoldaten sich schlafen gelegt, und während sie schliefen, sind seine Jünger herangeschlichen und haben den Leichnam gestohlen. Die Legionäre sind bereit, das zu bestätigen und ihren Fehler nach Kräften wiedergutzumachen. Deshalb verzeihen wir ihnen und verlangen keine Bestrafung.«
Ihre Behauptungen widersprachen derart dem gesunden Menschenverstand und meinem eigenen Augenschein, daß ich die bestimmte Empfindung hatte, die Ratsherren müßten irgendwelche Ränke ausgeheckt und sie Soldaten für sich gewonnen haben. So sagte ich zu Adenabar: »Nach römischem Recht werden Soldaten, die auf ihren Wachposten einschlafen oder ihn unerlaubt verlassen, zu Tode geknüttelt oder enthauptet.«
Unsere beiden Legionäre zuckten vor Schreck zusammen und beäugten einander. Die vier mit den Juden gekommenen Soldaten stießen jedoch ihre Kameraden an, zwinkerten ihnen zu und bedeuteten ihnen mit allerlei Gesten, sie hätten nichts zu befürchten. Die Juden wiederholten: »Die Leute haben für uns Wache gestanden und nicht für Rom. Es ist also unsere Sache, ihre Bestrafung zu verlangen oder Nachsicht walten zu lassen.«