Plötzlich packte mich übermächtig der Wunsch dahinterzukommen, was sich wirklich zugetragen hatte, und nun beging ich einen Fehler. Um den Juden bange zu machen, schlug ich ihnen vor: »Geht in die Grabkammer, seht selbst nach und befragt dann die Wachen wieder, wenn ihr wollt – und euch traut!«
Adenabar war klüger als ich und rief rasch: »Warum solltet ihr, so fromme Männer, euch zwecklos durch das Betreten einer Begräbnisstätte verunreinigen?«
Indes schlossen die Juden aus meiner Aufforderung und Adenabars Einwurf, daß in der Gruft etwas Besonderes zu sehen sein mußte. Nachdem sie sich in ihrer heiligen Sprache, die ich nicht verstehe, beraten hatten, traten sie hintereinander in gebückter Haltung ein, und natürlich konnten wir sie jetzt nicht mehr daran hindern. Obwohl der Raum für drei Personen sicherlich sehr eng war, blieben sie lange drinnen. Schließlich ging ich hin und blickte in die Felskammer. Ich sah die gekrümmten Rücken der Juden und hörte ihr lebhaftes Reden.
Endlich tauchten sie, mit roten Gesichtern und unsteten Blicken, wieder auf und sagten: »Jetzt haben wir uns verunreinigt, um bezeugen zu können, daß alles genau so verlaufen ist, wie die Wachsoldaten geschildert haben. Und da uns nun nichts mehr unreiner machen kann, als wir schon sind, wollen wir gleich zum Statthalter gehen und die Sache mit ihm durchsprechen, um falschen Gerüchten und lügenhaften Darstellungen vorzubeugen.«
Von schlimmen Vorahnungen erfüllt, eilte ich in das Grab. Sobald ich mich an das Dunkel gewöhnt hatte, stellte ich fest, daß die Juden in ihrer Erregung bei der vergeblichen Suche nach dem Leichnam alle Grabtücher auseinandergerissen hatten.
Heftige Wut packte mich über meine eigene Dummheit, die den Verlust des einzigen Beweisstückes für die übernatürliche Auferstehung des Königs verschuldet hatte. Im selben Augenblick aber begann mir der Kopf zu schwindeln, wohl ebensosehr aus Erschöpfung und Schlafmangel wie durch den betäubenden Myrrhengeruch in der kleinen Grabkammer. Ein schattenhaftes Gefühl der Unwirklichkeit überkam mich, und ich glaubte ganz stark die Gegenwart einer höheren Macht zu spüren. Es war, als hielten unsichtbare Hände mich an den Schultern fest und hinderten mich daran, hinauszustürzen und den Juden sinnlose Vorwürfe zu machen. Ich gewann meine Selbstbeherrschung und damit meine Gemütsruhe wieder, so daß ich mit gesenktem Kopf ins Freie trat, ohne die Juden anzureden oder auch nur anzublicken.
Mit kurzen Worten erzählte ich Adenabar, was sie angerichtet hatten. Er sah mich unschlüssig an, als wollte er fragen, was wir jetzt am besten tun sollten. Schließlich begnügte er sich damit, resigniert auf syrische Art die Finger zu spreizen. Nochmals forderte er die Soldaten auf, ihre Waffen niederzulegen. Aber sie fingen wieder an, sich herauszureden, und sagten: »Ist das als Befehl aufzufassen? Wenn wir unsere Waffen niederlegen, sieht es so aus, als würden wir eine Pflichtverletzung zugeben. Im Namen des Stiergottes, wir haben doch hier ein jüdisches Grab auf jüdisches Ersuchen bewacht. Da kann es kein Verbrechen gewesen sein, wenn wir auf unserem Posten schliefen. Im Gegenteil, es beweist, daß wir tapfere Leute sind und uns vor der Finsternis nicht fürchten. Wenn du uns unsere Waffen beläßt und es den Juden anheimstellst, die Sache beim Prokonsul aufzuklären, sollst du das nicht bedauern. Dafür bürgen wir, und auch die Juden.«
Wieder warf Adenabar mir einen verstohlenen Blick zu, als wollte er mir nahelegen, auch selbst ein wenig Nutzen aus einer Lage zu ziehen, an der nichts mehr zu ändern war; aber den Mund zu öffnen wagte er doch nicht. So marschierten wir alle wohlgeordnet durch die Stadt in die Burg zurück. Die Juden folgten uns, da ihnen eine weitere Bewachung des Grabes überflüssig erschien, nachdem der Leichnam, wie sie weiterhin steif und fest behaupteten, inzwischen gestohlen worden war. Die sechs Soldaten der Wachmannschaft schritten in einer geschlossenen Gruppe und tuschelten miteinander.
Als wir den Burghof erreichten, saß Pontius Pilatus noch in seinem schweren, rot überzogenen Richterstuhl am Fuße der Turmtreppe. Er hatte einen Tisch neben sich stellen lassen, kaute eben an einem Stück Brathuhn und warf die Knochen hinter sich. Auch Wein war aufgetragen worden, und die Stimmung des Statthalters schien sich völlig gewandelt zu haben.
»Nur heran, ihr alle!« forderte er uns in leutseligstem Töne auf. »Du, Marcus, stelle dich hier neben mich! Du bist ja ein gebildeter Mann und ein unparteiischer Zeuge. Aber halte dir immer vor Augen, daß die Juden großzügige Leute sind! In geschäftlichen Dingen kann man wirklich sehr gut mit ihnen auskommen. Bringt Stühle für diese ehrwürdigen Ratsherren, die uns Römer nicht verachten! Mein Privatsekretär wird selbst das Protokoll führen. Und ihr, ihr Sündenböcke der Legion, kommt näher! Habt keine Angst vor mir, sondern erzählt mir unbeschönigt, was euch widerfahren ist!«
Die Soldaten glotzten bald ihn, bald die Juden an; dann trat ein breites Grinsen auf ihre verstockten syrischen Gesichter. Sie schoben einen Sprecher vor, der seine Geschichte mit feierlichen Beteuerungen einleitete:
»Bei Cäsars Schutzgeist und beim Stiergott, dies sind Worte der Wahrheit. Mit deiner Genehmigung haben die Juden uns zur Bewachung des Grabes, in das der gekreuzigte Nazarener gelegt worden war, gedungen. Gestern abend sind wir alle sechs hinmarschiert. Nachdem wir uns davon überzeugt hatten, daß das Siegel unverletzt war, ließen wir die Tageswache abrücken, lagerten uns auf dem Boden vor der Gruft und machten es uns gemütlich. Dank der Freigebigkeit der Juden hatten wir reichlich Wein, um uns die Nachtkälte vom Leibe zu halten. Zuerst wollten wir es so machen, daß immer zwei Nachtwache hielten und die vier anderen schliefen. Aber an 'diesem Abend hatte niemand Lust zum Schlafengehen. Wir würfelten, sangen und unterhielten uns, und eigentlich fehlten nur ein paar Mädel zu unserem vollen Glück. Daß die jüdischen Weine heimtückisch sein können, weißt du ja, Herr. Im Verlaufe der Nacht geriet uns die Reihenfolge der Ablösungen durcheinander, und wir kamen in Streit darüber, weil niemand mehr bestimmt sagen konnte, wer von uns wachen mußte und wer schlafen durfte. Offen gestanden waren wir so beschwipst, daß wir anscheinend alle sechs eingeschlafen sind, wobei jeder glaubte, zwei von den anderen wären wach und auf Posten.«
Er wandte sich zu seinen Kameraden, die eifrig nickten und dreist bestätigten: »Genau so war es. Das ist die volle Wahrheit.«
Der Sprecher setzte seinen Bericht fort: »Wir erwachten erst durch das Erdbeben, und da sahen wir, daß die Jünger des Gekreuzigten in die Gruft eingedrungen waren und gerade den Leichnam heraustrugen. Es war ihrer ein ganzer Haufen – grimmige Kerle, die zu jeder Bluttat fähig schienen. Als sie bemerkten, daß wir aufgewacht waren, wälzten sie den Stein vom Grufteingang auf uns hinunter und konnten so entkommen.«
Pilatus tat sehr interessiert und fragte: »Wie viele waren ihrer?«
»Zwölf«, erklärte der Sprecher ohne Zögern. »Sie ließen ihre Waffen klirren und brüllten fürchterlich, um uns Angst einzujagen.«
Einer der jüdischen Ratsherren mischte sich ins Gespräch mit der Bemerkung: »Es können kaum mehr als elf gewesen sein. Den zwölften, den Mann, der sich von ihnen losgesagt hatte, haben sie nämlich aus Rache ermordet. Zumindest fanden heute früh die Hirten seine Leiche in der Nähe der Stadtmauer. Man hat ihn mit seinem eigenen Gürtel erdrosselt und ihn in eine Schlucht geworfen, so daß sein Bauch barst und alle Eingeweide herausquollen.«
Pilatus fragte: »Trugen die Jünger den Leichnam des Gekreuzigten so weg, wie er dagelegen hatte, oder haben sie vorher in der Gruft die Totenlinnen abgestreift?«
Der Sprecher geriet etwas aus der Fassung, warf seinen Kameraden einen Seitenblick zu und sagte dann: »Ach, die Leiche muß wohl noch eingehüllt gewesen sein. Die Räuber hatten es ja eilig, wegen des Erdbebens.«