Er stützte die Ellbogen auf die Knie und sein schmales Kinn in die Hände und starrte vor sich hin. »Natürlich hat er mich sehr beeindruckt, dieser jüdische Wundertäter«, gestand er. »Tiefer, als du glauben würdest – tiefer, als Claudia meint. Wundertäter, Propheten und angebliche Messiasse sind ja in Judäa auch schon früher aufgetreten; sie haben alle das Volk aufgewiegelt und Verwirrung gestiftet, bis man sie unschädlich machte. Doch dieser Jesus war kein solcher Aufrührer. Er war derart demütig, daß ich ihm bei meinem Verhör kaum in die Augen schauen konnte. Du mußt wissen, ich hatte Gelegenheit, ihn zu befragen, ohne daß ein Hebräer zugehört hätte. Dabei nannte er sich, so wie die Juden in ihrer Anklage behauptet hatten, einen König und stellte sich damit gegen Cäsar. Aber es war offenkundig, daß er sein Königtum als bloß sinnbildlich betrachtete; und soviel ich weiß, hat er sich auch nie geweigert, die Steuern an den römischen Staat zu entrichten. Sein Reich sei nicht von dieser Welt, so erklärte er mir; und dann sagte er auch, er sei dazu geboren worden und dazu in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Selbstverständlich hat mich das tief ergriffen, so abgebrüht ich auch sonst sein mag. Indes haben die Sophisten längst bewiesen, daß es auf der Welt keine absolute Wahrheit gibt, daß alle Wahrheiten nur bedingt gelten und gegeneinander abgewogen werden müssen. Übrigens habe ich ihn selbst gefragt, was Wahrheit sei. Aber darauf wollte oder konnte er nicht antworten.«
»Nein, ich fand keine Schuld an diesem Menschen«, fuhr Pilatus nachdenklich fort. »In seiner jämmerlichen Verfassung nach den Mißhandlungen der Juden schien er mir im Gegenteil der harmloseste und, in edlem Sinne, schlichteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Er hatte gar keine Angst vor mir; er verteidigte sich nicht einmal. In ihm war echte Seelenstärke. Ich muß gestehen, daß ich mich, trotz meiner hohen Stellung als Prokonsul, ihm gegenüber irgendwie als der Schwächere empfand. Aber das war kein demütigendes Gefühl. Eher könnte ich sagen, daß es mir wohltat, mit ihm zu sprechen und seine gelassenen Antworten zu hören. Er versuchte nie, sich zu rechtfertigen, und wurde nie ausfällig.«
Pilatus blickte mich an, lächelte wieder und fügte in versöhnlichem Töne hinzu: »Ich hielt es für angezeigt, dir das alles zu sagen, damit du mich nicht falsch beurteilst. Ich wollte sein Bestes; aber die politischen Umstände hatten sich unerbittlich gegen ihn verschworen. Es war unmöglich, ihn zu retten, da er selbst keinen Finger zu seinen Gunsten rührte. Im Gegenteil, es war, als hätte er nur auf sein Schicksal gewartet und es im voraus genau gekannt.«
Sein Gesicht wurde hart; er starrte mich finster an und sagte schließlich: »Ein außergewöhnlicher Mann, vielleicht sozusagen ein Heiliger! Aber Gott war er keiner, Marcus – gib dich da nicht einer Täuschung hin! Er war ein Mensch, ein lebendes Menschenwesen, so wie wir alle. Du selbst hast ihn nach Menschenart sterben sehen. Nicht einmal die Furien selber könnten mir die Wahnvorstellung einflößen, daß ein Toter auferstehen und durch die Leichenhüllen in die Luft entschwinden kann. Alles auf dieser Welt findet eine natürliche – und gewöhnlich ziemlich einfache – Erklärung.«
So sprach er zu mir, weil die Angelegenheit ihn ständig beunruhigte und weil er sich als römischer Beamter auf greifbare Tatsachen beschränken wollte. Er mußte es tun. Ich sah das ein und widersprach ihm nicht, sondern schwieg hartnäckig. Später bereute ich dieses Schweigen; denn hätte ich ihn gefragt, so wäre er in diesem Augenblick der Gewissenserforschung sicherlich bereit gewesen, mir alles zu erzählen, was während des Verhörs vorgegangen war und was der Nazarener ihm geantwortet hatte.
Nun aber trat Adenabar ein. Der Prokurator nickte ihm zu und sagte: »Sprich!«
Der Zenturio rieb sich aufgeregt die Hände und fragte: »Herr, was willst du, daß ich dir berichte?«
Pilatus entgegnete barsch: »Es handelt sich hier nicht um ein gerichtliches Verhör, sondern um eine vertrauliche Unterredung von Mensch zu Mensch. Ich fordere dich nicht auf, die Wahrheit zu reden; Wahrheit ist etwas, worüber wir beide, du und ich, wenig wissen. Erzähle mir einfach, was diese Burschen tatsächlich gesehen zu haben glauben!«
»Sie haben jeder dreißig Silberstücke bekommen«, begann Adenabar. »Dafür legten ihnen die Juden in den Mund, was sie aussagen sollten. In Wirklichkeit hatten sie während der Nacht Angst und trauten sich kaum, in der Nähe des Grabes zu schlafen, aus Furcht vor Gespenstern. Als die Erde zu beben anfing, waren bestimmt zwei der Soldaten ordnungsgemäß auf Wache. Der Erdstoß warf sie zu Boden. Sobald der Stein vor der Grufttür losbrach, wachten alle auf und hörten in der Finsternis etwas Schweres auf sich zukollern. Und dann …«
Adenabar hielt verlegen inne und meinte entschuldigend: »Ich wiederhole nur, was mir gesagt wurde. Die Burschen mußten nicht einmal ausgepeitscht werden, so redselig waren sie von selbst, wohl aus Bedauern darüber, daß wir ihnen das Geld weggenommen hatten. Als sie dem rollenden Stein entgangen waren, zitterten sie alle vor Entsetzen, und sie sahen ein blendend weißes Licht, einem Blitze gleich, obwohl kein Donner zu hören war. Der Blitzstrahl schleuderte sie wieder zu Boden, so daß sie eine Zeitlang des Augenlichtes beraubt und betäubt dalagen, wie Tote. Als sie es endlich wagten, sich dem Grabe wieder zu nähern, vernahmen sie keine Bewegung, kein Geräusch, keine Schritte. Sie sahen auch keine menschlichen Gestalten und sind der festen Meinung, niemand hätte, ohne von ihnen bemerkt zu werden, in die Gruft eintreten und sie wieder verlassen können. Nachdem sie untereinander beraten hatten, ließen sie zwei Männer als Wache zurück, während die vier anderen – ohne den Mut aufzubringen, sich durch eigenen Augenschein Gewißheit darüber zu verschaffen, ob der Leichnam noch vorhanden war – sich eilends davonmachten, um den Juden das Geschehene zu melden.«
Pilatus sann über diesen Bericht nach. Dann wandte er sich an mich und fragte: »Marcus, welche Version hältst du für glaubwürdiger: die von den Juden für wahr hingestellte oder die uns eben geschilderte?«
Ich antwortete freimütig: »Ich kenne die Logik der Sophisten und die Wahrheit der Kyniker. Ich bin auch in Mysterien eingeweiht worden, für die ich mich übrigens, bei aller Schönheit ihrer Sinnbilder, nicht erwärmen konnte. Die Philosophie hat einen Zweifler aus mir gemacht. Aber die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Welt hat mir immer wie ein Dolch im Herzen gebohrt. Jetzt durchschaue ich diese Dinge völlig. Mit eigenen Augen habe ich Jesus sterben sehen. Und mit eigenen Augen habe ich mich heute davon überzeugt, daß keine irdische Macht ihm den Weg aus dem Grabe geöffnet hat. Wie du selbst vorhin sagtest: die Wahrheit ist einfach. Heute morgen kam das Reich dieses Heiligen zur Erde herab. Die Erde bebte und legte das Grab frei. Als er sich erhob und die Gruft verließ, blendete sein Glanz die Wachen. Wie einfach ist das alles! Warum sollte ich statt dessen irgendwelche zusammengebrauten Geschichten glauben, die nichts mit den Tatsachen zu tun haben?«
»Marcus, mach dich nicht lächerlich!« wehrte der Prokurator ab. »Denke daran, daß du römischer Bürger bist! Und du, Adenabar, für welche Auffassung bist du?«
»Herr, in dieser Sache habe ich keine eigene Meinung«, erwiderte der Zenturio diplomatisch.
»Marcus«, beschwor der Statthalter mich, »willst du ernstlich, daß ich mich zum allgemeinen Gespött mache, indem ich die Legion, alle Besatzungen in Judäa, zur Gefangennahme eines aus seinem Grabe Entwichenen aufbiete? Das wäre ja, wenn du recht hättest, meine Pflicht. Besondere Merkmale: eine bis ins Herz reichende Stichwunde an der Seite; Nägelmale an Händen und Füßen; nennt sich König der Juden.«