Etwas ruhiger fuhr er fort: »Aber ich will dir die Wahl erleichtern. Ich habe dich nicht gefragt, was du für die Wahrheit hältst, sondern, welche der beiden Versionen dir für die Welt, in der wir leben, glaubwürdiger erscheint. Oder, noch besser, welche von den beiden politisch sachdienlicher ist, sowohl vom jüdischen wie vom römischen Gesichtspunkt. Du' wirst gewiß verstehen, daß ich ohne Rücksicht auf meine eigene Meinung den politisch zweckmäßigsten Weg einschlagen muß.«
»Ja, und jetzt verstehe ich auch deine Frage an ihn: ›Was ist Wahrheit?‹«, entgegnete ich erbittert. »Mag es also bei deiner Auffassung bleiben! Jedenfalls bist offenbar du damit zufrieden. Die Juden haben sich auf deine Seite geschlagen und dir zweierlei ins Haus geliefert: eine glaubwürdige Geschichte und ein Geschenk, damit die Fabel dir süßer eingeht. Natürlich ist ihre Version sachdienlicher. Ich gedenke nicht, den Kopf in deine Schlinge zu stecken und die Gelegenheit zu bieten, mich politischer Ränke zu zeihen. So töricht bin ich nicht. Aber vielleicht gestattest du mir, persönlich bei meiner eigenen Ansicht zu bleiben. Ich werde sie nicht austrompeten.«
»Dann sind wir alle drei der gleichen Meinung«, erklärte Pilatus sehr gelassen. »Je rascher wir die Sache vergessen, desto besser. Du, Adenabar, und der Festungskommandant könnt euch jeder ein Drittel des Judengeldes nehmen – das ist nur recht und billig. Gebt aber den Wachsoldaten je zehn Silberstücke, um ihnen die Mäuler zu stopfen. Morgen soll man sie freilassen und zu gelegener Zeit über die Grenze abschieben, womöglich nach verschiedenen Himmelsrichtungen. Falls sie jedoch unangebrachterweise alberne Gerüchte zu verbreiten anfangen, müssen wir raschest einschreiten.«
Ich nahm diese Bemerkung als Wink, daß auch ich gut daran tat zu schweigen, zumindest, solange ich in Judäa bleiben wollte. Aber wenn ich es recht überlege, könnte ich ohnedies nirgends in der ganzen gesitteten Welt offen von meinen Erlebnissen reden. Man würde mich sonst entweder für einen Wirrkopf halten oder für einen Aufschneider, der sich wichtig machen möchte. Im schlimmsten Falle könnte Pilatus mich als politischen Unruhestifter anzeigen, der sich zum Schaden Roms in jüdische Angelegenheiten mische. Heutzutage kommt es vor, daß aus nichtigeren Gründen Bürger um einen Kopf kürzer gemacht werden.
Diese Erwägungen bedrückten mich. Doch ich tröstete mich damit, daß ich die Wahrheit in erster Linie für mich selbst herausfinden wollte und nicht, um sie anderen zu erzählen.
Als Adenabar gegangen war, fragte ich den Prokurator in aller Bescheidenheit: »Aber nachgehen darf ich doch dieser Sache mit dem Judenkönig? Nicht seiner Auferstehung; darüber will ich schweigen. Aber über seine Taten und Lehren möchte ich etwas erfahren. Vielleicht kann ich einigen Nutzen daraus ziehen. Du sagst ja selbst, er sei ein außergewöhnlicher Mensch gewesen.«
Pilatus rieb sich das Kinn, blickte mich wohlwollend an und erwiderte: »Ich glaube, am besten tätest du, diesen Mann ganz zu vergessen und dir mit dieser jüdischen Religion nicht das Hirn zu zermartern. Du bist noch jung, du bist wohlhabend und ungebunden, du hast einflußreiche Freunde, und das Leben lächelt dir zu. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Solange du also deine Neugierde behutsam und unauffällig befriedigst, werde ich dir nichts in den Weg legen. Augenblicklich ist in Jerusalem dieser Jesus noch in aller Munde; aber du ahnst nicht, wie kurz das Gedächtnis der Menschen ist. Seine Schüler werden bald in alle Winde zerstreut sein und nach Hause zurückkehren. Glaube mir, in ein paar Jahren redet kein Mensch mehr von dem Manne.«
Ich verstand, daß damit unser Gespräch beendet war, und ging, da der Statthalter mich nicht zu sich eingeladen hatte, in die Offiziersmesse essen. Mich quälte solche Unrast, daß ich kaum hörte, was man zu mir sprach, und nach dem Mahle konnte ich nicht wie die anderen der Muße pflegen. Unschlüssig verließ ich die Burg und streifte planlos in der Stadt umher. Die Straßen waren voll Menschen, die nach dem Fest heimkehrten. Ich sah Vertreter sämtlicher Rassen der Erde und versuchte, mir in den jüdischen Läden die Waren aus aller Herren Länder anzuschauen. Aber dergleichen hatte ich schon in anderen großen Städten gesehen, und ich fand keinerlei Vergnügen daran.
Nach einiger Zeit merkte ich, daß mein Blick sich nur auf eines heftete: auf die an den Häuserwänden kauernden Bettler, auf ihre verkrüppelten Glieder, blinden Augen und schwärenden Beulen. Darüber wunderte ich mich; denn an Bettler gewöhnt der Reisende sich derart, daß er sie ebensowenig beachtet wie die ihn umschwirrenden Fliegen. Die armen Kerle saßen reihenweise beiderseits der Straße vor dem Tempel, und jeder schien seinen angestammten Platz zu haben. Sie streckten die Hände aus, riefen laut mit weinerlicher Stimme und stießen und knufften einander.
Es schien, als wäre mit meinen Augen irgend etwas nicht in Ordnung; denn statt der Putzläden, statt der Pharisäer mit ihren mächtigen Mantelquasten und der morgenländischen Händler, statt des anmutigen Schreitens der Wasserträgerinnen erblickte ich allenthalben nur Bettler, verstümmelte, jammervolle Gestalten. So wurde ich der Stadtstraßen müde, trat durch ein Tor der Rundmauer ins Freie und sah wiederum den Hinrichtungshügel vor mir. Ich eilte an ihm vorbei und trat in den Garten, wo das Grab war. Ich bemerkte, daß dieser Platz mit seinen Obstbäumen und Kräuterbeeten sich lieblicher ausnahm, als ich gedacht hatte. Jetzt, während der Mittagsruhe, war es hier menschenleer. Meine Schritte führten mich zu der Felsengruft; nochmals betrat ich sie und sah mich darin um. Die Linnen waren entfernt worden, und nichts mehr Ungewöhnliches fiel dem Betrachter auf, außer vielleicht dem Geruch nach Spezereien.
Sobald ich das Grab verließ, übermannte mich so ungeheure Müdigkeit, wie ich sie noch nie empfunden zu haben glaube. Ich hatte zwei Nächte nicht richtig geschlafen, und die vergangenen beiden Tage schienen mir, ebenso wie der jetzige dritte, die längsten meines Lebens. Vor Erschöpfung taumelnd schleppte ich mich in den Schatten eines Myrtenstrauches, warf mich ins Gras, hüllte mich in meinen Mantel und schlief sofort ein.
Als ich erwachte stand die Sonne tief, und es war schon die zehnte Stunde. Vogelgezwitscher umgab mich; der Wohlgeruch von Reseden und die Kühle frischer Luft hüllten mich ein. Ich setzte mich auf und fühlte mich wunderbar ausgeruht. Meine Unrast war verflogen, und ich spürte keinen Drang mehr, mich mit törichten Gedanken abzuquälen. Ich sog die würzige Luft ein; die ganze Welt schien mir verjüngt. Und plötzlich bemerkte ich, daß der trockene, lästige Wüstenwind sich gelegt hatte und daß alles auf Erden erquickt war. Der Wind mochte schon am Morgen abgeflaut sein, ohne daß ich etwas davon gemerkt hatte. Aber jetzt schmerzte mir der Kopf nicht länger, meine Augen brannten nicht mehr vor Schläfrigkeit, ich hatte keinen Hunger, keinen Durst. Ich spürte nur, daß es herrlich war, zu atmen, zu leben, da zu sein als Mensch in der Menschenwelt.
Ich sah einen Gärtner durch den Garten wandeln, die Äste der Obstbäume heben und die Fruchtansätze betasten. Er war wie ein Mann aus dem Volke gekleidet, in einen schlichten Überwurf mit kleinen Quasten, und zum Schutz vor der Sonne hatte er den Kopf bedeckt. Ich dachte mir, der Mann könnte böse werden darüber, daß ich mich unerlaubt in seinem Garten schlafen gelegt hatte; die jüdischen Bräuche sind ja sehr verwickelt, und ich wußte wenig davon. Deshalb erhob ich mich rasch, ging auf den Gärtner zu, grüßte ihn und sagte: »Dein Garten ist prächtig, und ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, daß ich hier geruht habe, ohne um Erlaubnis zu fragen.« In diesem Augenblick hätte ich niemanden auf der ganzen Welt kränken wollen.
Er wandte sich mir zu und lächelte so gütig, wie noch kein Jude mir zugelächelt hatte, mir, einem glattwangigen Römer. Mehr noch aber überraschte mich seine Antwort. Er entgegnete freundlich, fast verlegen: »In meinem Garten ist auch für dich Platz. Ich kenne dich ja.«