Ich nahm an, er sei vielleicht kurzsichtig und verwechsle mich mit irgendwem anderen. Erstaunt sagte ich: »Wie du bemerken wirst, bin ich Ausländer. Woher solltest du mich denn kennen?«
In der rätselvollen Art der Juden entgegnete er: »Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.«
Er winkte mir zu, mit ihm zu kommen. In der Meinung, er wolle mir etwas zeigen oder mir irgendwie seine Gastfreundschaft erweisen, folgte ich gerne der Aufforderung. Er schritt voraus, und ich bemerkte, daß er stark hinkte, obwohl er mir noch keineswegs alt vorkam. An einer Wegbiegung hob er wieder einen herabhängenden Ast, und ich sah, daß seine Hand verletzt war. Er hatte eine häßliche Wunde an der Handwurzel, die noch nicht verheilt schien. Bei diesem Anblick blieb ich wie versteinert stehen, und für eine Weile versagten die Beine mir den Dienst. Nochmals ließ der Gärtner vertraulich den Blick auf mir ruhen und setzte dann seinen Weg fort, um einen steilen Abhang herum.
Sobald ich mich wieder in der Gewalt hatte, lief ich laut rufend dem Manne nach; doch als ich um die Böschung bog, war er verschwunden. Obwohl das Weglein sich fortsetzte, konnte ich ihn nirgends entdecken, ebensowenig aber eine Stelle, wo er sich in so kurzer Zeit hätte verstecken können. Die Knie schlotterten mir, und ich setzte mich ratlos mitten auf den Weg.
Den ganzen Vorfall habe ich hier genau so geschildert, wie er sich zutrug. Nun, da diese Zeilen niedergeschrieben sind, will ich ehrlich gestehen, daß ich eine Zeitlang fest daran glaubte, in der Gestalt des Gärtners dem auferstandenen Judenkönig begegnet zu sein. Die häßliche Wunde an seiner Handwurzel war genau an der Stelle gewesen, wo bei der Kreuzigung der Henker den Nagel einschlägt, damit die Knochen das Gewicht des an ihnen zerrenden Körpers aushalten. Der Mann hatte behauptet, er kenne mich. Wie wäre das anders möglich gewesen als dadurch, daß er mich vom Kreuz herab erblickt hatte?
Aber die kurze Spanne seelischer Entrückung ging vorbei, die Erde verblaßte vor meinen Augen wieder zu stumpfem Grau, und die Vernunft meldete sich. Ich saß auf einem staubigen Weg, und ein freundlicher Jude hatte mir zugelächelt. Weshalb war ich dadurch so außer Rand und Band geraten? Es mochte wohl noch manche Juden geben, die zu Fremden höflich waren. Lahme hatte ich in der Stadt mehr als genug gesehen, und an den Händen verletzt ein Gärtner sich bei der Arbeit leicht. Seine Gebärde muß ich mißverstanden haben; wahrscheinlich hatte er mich damit gar nicht auffordern wollen, ihm zu folgen, und war schließlich in eine ihm bekannte Höhle oder dergleichen getreten.
Vor allem: wenn er der Judenkönig gewesen wäre, warum hätte er sich ausgerechnet mir zeigen sollen? Wer bin ich, daß er so etwas täte? Und andererseits: falls er es doch war und irgendeinen besonderen Grund für sein Erscheinen hatte, wäre er sicherlich mir gegenüber auf seine Absichten und Anliegen zu sprechen gekommen; sonst entbehrte ja sein Sichtbarwerden jeden Sinnes.
Zunächst nahm ich an, ich hätte einfach geträumt. Als ich mich jedoch aufrappelte und den Weg zurückging, fand ich die Stelle, wo ich unter dem Myrtenstrauch im Grase geschlafen hatte. Nein, Traum war es keiner gewesen. Ich streckte mich wieder hin, und mein durch Schulung geschärfter Verstand lehnte sich gegen die Unsinnigkeit meines Hirngespinstes auf. Natürlich wäre ich überglücklich gewesen, den gekreuzigten König auferstanden und lebend zu sehen; aber ich hatte kein Recht, meinen Wunsch für Wahrheit zu nehmen und mir einzureden, ich hätte tatsächlich in Gestalt des Gärtners Jesus erblickt.
Derart teilten sich meine Gedankengänge, und mich erfaßte das erschreckende Gefühl, in zwei verschiedene Wesen gespalten zu sein, von denen das eine zu glauben begehrte, während das andere sich über solche Leichtgläubigkeit lustig machte. Der Spötter hielt mir vor, ich hätte einfach an Jugendlichkeit und Spannkraft verloren. Die Belastungen jenes alexandrinischen Winters, den ich abwechselnd mit Weingelagen in leichtfertiger Gesellschaft und mit dem Studium dunkler Weissagungen verbracht hatte, seien Gift für meine Seele gewesen. Die Fußwanderung von Joppe hierher, die erschütternden Vorfälle, deren Zeuge ich durch eine Laune des Zufalls geworden war, seien zusammen mit durchwachten Nächten und übertriebener Schreibwut der bekannte letzte Tropfen zum Überlaufen eines randvollen Bechers gewesen oder die vielberufene Feder der Sophisten, die einem Kamel das Rückgrat bricht. Ich könne meinen eigenen Sinnen nicht mehr trauen, geschweige denn meiner Urteilskraft. Pontius Pilatus sei älter als ich und dazu ein erfahrener, klarsichtiger Mensch. Wenn ich klug wäre, müßte ich mich an seinen Rat halten: mich ausruhen, die heilige Stadt Jerusalem besichtigen und meine Erlebnisse vergessen.
Mir fielen die bösen Geister ein, die nach jüdischen Sagen in schwachmütige Menschen fahren und von ihren Körpern Besitz ergreifen. Ich hatte bei Gräbern geschlafen und mich den dort lauernden Gefahren ausgesetzt. Das Schwierige für mich war nur, zu entscheiden, was in meinem Innern einem solchen Dämon entstammen mochte: jene Stimme, die mich glauben ließ, der Judenkönig sei von den Toten auferstanden und ich hätte ihn, als Gärtner verkleidet, gesehen, oder aber die Stimme, die mit all dem nur ätzenden Spott trieb.
Ich hatte kaum Zeit, diese Gedankengänge zu verfolgen; denn schon begehrte der Lästerer in mir auf: ›So weit bist du also, daß du an die jüdischen Dämonen glaubst! Du hast doch den Ärzten in Alexandria beim Zerstückeln menschlicher Leichen zugeschaut und hast gehört, daß sie auch zum Tode verurteilten Verbrechern bei lebendigem Leibe den Rumpf aufgeschnitten haben, um ihre Seele zu suchen. Gefunden haben sie nichts. Du gaukelst dir vor, daß ein Mensch, den du am Kreuze sterben sahst und dem ein verhärteter Legionär das Herz mit einer Lanze durchbohrt hat, als einziger unter allen Menschen von den Toten auferstanden sein könnte. Solche Dinge sind unmöglich; und Unmögliches ereignet sich nicht.‹
Aber mein glaubensbereites Ich widersprach: ›Marcus, wenn du jetzt aufgibst und dich zurückziehst, wirst du nie mehr im Leben Frieden finden. Unablässig wirst du dich mit dem Gedanken quälen, vor deinen Augen sei etwas geschehen, was nie zuvor geschah. Laß dich nicht zu sehr von der Vernunft leiten! Alle Vernunft ist beschränkt und irreführend, wie die Sophisten bewiesen haben. Nichts hindert dich daran, unvoreingenommen und sachlich alles zu erforschen. Erst wäge, dann wage! Die Tatsache, daß sich etwas dergleichen bisher nie zugetragen hat, beweist nicht, daß es sich nie zutragen kann. Hier geht es um etwas weit Größeres als bei den Anzeichen und Vorboten, an die du stets wenigstens halb und halb geglaubt hast. Verlaß dich mehr auf dein Gefühl als auf deinen Verstand! Du bist nicht einer der sieben Weltweisen, und niemand hat, auf welchem Gebiet immer, Erfolg gehabt, wenn er den Verstand allein sprechen ließ. Sulla hat sich auf sein Glück verlassen; Cäsar aber glaubte nicht, daß die Iden des März ihm Verderben bringen würden. Sogar die vernunftlosen Tiere verhalten sich unbewußt klüger als der Mensch. Denke daran, wie vor dem Erdbeben die Vögel zu singen aufhörten und der Esel scheu wurde! Denke an die Ratten, die das Schiff verlassen, weil es bei der nächsten Ausfahrt dem Untergang geweiht ist!‹
Ein solcher innerer Zwiespalt läßt sich schwer beschreiben, und ich glaube, niemand, der ihn nicht selbst erlebt hat, wird ihn verstehen. Es ist ein schreckliches Erlebnis, und ich hätte wohl darüber den Verstand verloren, würde nicht in meinem Innersten eine kühle Gelassenheit wohnen, die mich stets auch durch die schwersten Stürme der Seele schützend geleitet hat. Aus Erfahrung wußte ich, daß es in diesen Fällen am besten ist, stillzuhalten und sich vor unnützem Grübeln zu hüten.
Als ich mich wieder gesammelt hatte, war der Abend schon nahe, und die Schatten der Hügel fielen in die Täler; oben aber, hoch über dem Häusergewirr, leuchtete der Judentempel purpurn in der Sonne. Ich ging in die Stadt und machte mich auf die Suche nach dem Hause des jüdischen Bankiers, um meinen Kreditbrief einzulösen; ich sah voraus, daß ich für meine Nachforschungen ziemlich viel Geld brauchen würde. Das Gebäude befand sich in der Nähe des Theaters und des Hohenpriester-Hauses in einem erst kürzlich aufgebauten Stadtviertel.