Solange Nero lebte, hätte Vespasian jedoch nie einen Soldateneid gebrochen und Neros Vertrauen enttäuscht. So unvernünftig war er in seiner Treue, und er dachte nicht an seinen eigenen Kopf und die Zukunft seiner Söhne.
Die Treue ist gewiß etwas Anerkennenswertes, aber die wechselnden politischen Verhältnisse nehmen keine Rücksicht auf die Ehrenhaftigkeit eines Mannes; da mag man noch so laut von Ehre und Vaterland schreien!
Vespasian erklärte sich also endlich bereit, die schweren Pflichten eines Kaisers auf seine Schultern zu nehmen, da er erkannte, daß der Staat zugrunde gehen und der Bürgerkrieg nie ein Ende haben würde, wenn er nicht eingriff, und er griff in den Gang der Ereignisse ein zum Vorteil der Stillen im Lande, die nichts anderes wünschen, als in Frieden zu arbeiten und das kleine Glück des Menschen im Kreise der Ihren zu genießen. Von dieser Art sind die meisten Menschen, und deshalb haben sie auch nichts mitzureden, wenn die Angelegenheiten der Welt geregelt werden.
Ich fühle das Bedürfnis, Dir auch alles zu berichten, was ich von Neros Tod weiß, obwohl ich selbst nicht zugegen war. Als Neros aufrichtiger Freund hielt ich es für meine Pflicht, in dieser, gelinde gesagt, dunklen Geschichte zu forschen, so gut dies später unter den veränderten Verhältnissen noch möglich war. Aber freilich trieb mich auch die menschliche Neugier dazu.
Statilia glaubt fest, daß Nero so starb, wie es allgemein erzählt wird und wie es auch die Geschichtsschreiber berichten. Nero hatte sie aber doch nach Antium verbannt. Sie kann also gar nichts gesehen haben. Wie es sich mit Acte verhält, weiß ich nicht recht. Sie besucht Neros Grab und schmückt es mit Blumen, aber ich möchte fast meinen, sie tut es, um etwas zu vertuschen. Sie gehört zu den wenigen, die wirklich dabei waren, als Nero seinen später berühmt gewordenen Selbstmord beging.
Als Nero erkannte, daß der gallische Aufruhr unter Vindex gefährliche Formen annahm, kehrte er aus Neapolis nach Rom zurück. Er hatte diese Sache zuerst gar nicht ernst nehmen wollen, obwohl er natürlich über den unverschämten Brief des Vindex erzürnt gewesen war. Wieder in Rom, ließ er den Senat und die einflußreichsten Angehörigen des Ritterstandes zu einer heimlichen Beratung ins Goldene Haus kommen, spürte aber mit der Empfindsamkeit des Künstlers sogleich die Kälte und Abneigung, die diese Männer ihm entgegenbrachten. Nach der Beratung begann er ernstlich für sein Leben zu fürchten. Als er hörte, daß Galba sich mit den Aufständischen in Iberien vereinigt hatte, fiel er in Ohnmacht, denn er erkannte, daß der Vertrauensmann, den er gesandt hatte, nicht mehr rechtzeitig bei Galba eingetroffen war, um ihm zu sagen, daß er zum Besten des Staates Selbstmord begehen müsse.
Als sich die Kunde von Galbas Verrat in Rom verbreitete, setzte eine so wahnwitzige, lügnerische Hetze gegen Nero ein, wie man sie seit den Tagen des Octavianus Augustus, als es darum ging, Marcus Antonius zu besiegen, nicht mehr erlebt hatte. Ich will nicht wiederholen, was alles über ihn geredet wurde und was für Schändlichkeiten man in seine Statuen ritzte. Die größte Frechheit war, daß der Senat die Schlüssel zum Kapitol versteckte, nachdem Nero befohlen hatte, beide Stände müßten ihren Treueid und ihre heiligen Gelübde erneuern. Zwar fanden sie sich rasch wieder, als er nach langem Warten einen Tobsuchtsanfall bekam und damit drohte, er werde trotz der Heiligkeit des Kapitols die führenden Männer des Senats auf der Stelle hinrichten lassen, aber die vielen ungeduldig wartenden Zuschauer deuteten das Verschwinden der Schlüssel als eines der bösesten Vorzeichen für Nero.
Zu dieser Zeit standen Nero noch alle Möglichkeiten offen. Tigellinus hatte eine armlange Proskriptionsliste aufgestellt, die ich später in seinem Versteck fand und auf der auch mein Name stand. Das will ich ihm aber um unserer Freundschaft willen gern verzeihen. Weit mehr wunderte ich mich darüber, wie klar er die Notwendigkeit erkannt hatte, gewisse Männer, die Schlüsselämter im Staatsdienst innehatten, hinzurichten, als in Gallien und Iberien der Aufruhr emporloderte.
Auf der Liste standen die beiden derzeitigen Konsuln und eine so große Anzahl Senatoren, daß mich das Entsetzen packte. Es tat mir leid, daß ich die Liste aus politischen Gründen vernichten mußte. Es wäre sehr unterhaltsam gewesen, später einmal einige Namen daraus gewissen Gästen vorzulesen, die ich meiner Stellung wegen öfter einladen muß, obwohl mir nichts an ihrer Gesellschaft liegt.
Nero begnügte sich jedoch damit, die beiden Konsuln zu verabschieden und selbst allein das Konsulsamt zu besetzen. Seine Empfindsamkeit und seine Menschenliebe hinderten ihn daran, die strengen Maßnahmen zu ergreifen, die allein noch imstande gewesen wären, seine Macht zu retten. Dank Tigellinus standen die Prätorianer auf seiner Seite, aber er hätte den Baum bis auf den letzten kleinen Zweig abästen müssen, und er war der Ansicht, eine so strenge Behandlung vertrage der kräftigste Stamm nicht.
Nach seinen Triumphen als Künstler in Griechenland war Nero seiner Herrscherpflichten müde geworden. Ich glaube, wenn der Senat zuverlässiger gewesen wäre, würde er ihm nach und nach einen großen Teil seiner Macht übertragen haben. Du weißt aber selbst, wieviel Uneinigkeit im Senat herrscht und wie einer gegen den andern intrigiert. Der aufgeklärteste Alleinherrscher kann sich auf den Senat nicht voll verlassen, nicht einmal Vespasian. Ich hoffe, Du wirst dessen stets eingedenk sein, und ich sage das, obgleich ich selbst Senator bin und nach bestem Vermögen für die Überlieferungen und die Autorität des Senats eintrete.
Denn der Senat ist immer noch besser dazu geeignet, den Staat zu lenken, als das verantwortungslose Volk. Es gehört immerhin einiges dazu, Senator zu werden, während das Volk blind dem Manne folgt, der ihm außer Getreide auch noch Öl verspricht, die besten Theatervorstellungen anordnet und unter dem Deckmantel neuer Feiertage die meisten arbeitsfreien Tage einführt. Das Volk ist gefährlich und unzuverlässig, und es kann die besten Absichten zuschanden machen. Deshalb muß das Volk in guter Zucht und bei guter Laune gehalten werden.
Nero wollte keinen Krieg und am allerwenigsten einen Bürgerkrieg, der für alle echten Julier der vielen bitteren Erinnerungen wegen das Schlimmste ist, was einem Herrscher widerfahren kann. Er tat jedoch eigentlich nichts, um den Aufruhr zu unterdrücken, weil er kein Blut vergießen wollte. Denen, die ihm Vorwürfe machten, antwortete er spöttisch, es wäre vielleicht das beste, wenn er den Legionen, die sich Rom im Triumphmarsch näherten, allein entgegenträte und versuchte, sie für sich zu gewinnen, indem er ihnen vorsang. Deutet das nicht darauf hin, daß er sehr wohl seine eigenen geheimen Pläne haben konnte? Es ist kein leeres Gerede, daß er in seiner Jugend lieber auf Rhodos studierte als sich in der Politik geübt haben würde. Seine Sehnsucht war immer nach Osten gegangen, obwohl er nie weiter als bis Achaia kam.
Über Parthien wußte Nero vielleicht mehr als die militärischen Kundschafter, die nur auf Straßen, Weiden, Quellen, Furten, Bergpässe und befestigte Stützpunkte achten. Er sprach gern über die eigenartige Kultur der Parther, obwohl wir ihn auslachten, denn die Parther sind und bleiben doch Barbaren, bis Rom sie eines Tages zivilisiert.
Nach Neros Tod habe ich oft denken müssen, daß er vielleicht nur scherzte, als er sagte, er wolle eines Tages in Ekbatana auftreten. Ich habe gehört, daß Zitherspiel und Gesang nun in Parthiens vornehmsten Kreisen große Mode sind. Hier in Rom müssen wir uns seit der Eroberung Jerusalems ständig das Geklapper und Geklirre orientalischer Musikinstrumente anhören. Sistren und Tamburine, oder wie sie nun heißen.