Aber, wie Du weißt, spreche ich, seit meiner Jugend in Antiochia, das Aramäische gut. Damals, ehe ich in Rhodos zur Schule ging und meine Ansprüche an das Leben klarer erkannte, hatte ich ernstlich daran gedacht, bei irgendeinem Prokurator im Osten Sekretär zu werden.
Darum verstand ich sehr wohl, was dieser jüdische Sektierer aus der Wüste verkündete. Er schrie immer wieder mit vor Anstrengung schon heiserer Stimme: »Wer Ohren hat zu hören, der höre! Das Reich ist nahe. Ebnet die Pfade!«
Der Fremdenführer erläuterte: »Er kündet das Auftreten eines jüdischen Königs an. Solche Hohlköpfe schwärmen derart viele aus der Wüste in die Stadt, daß die Polizei sich nicht einmal mehr die Mühe nimmt, alle wieder hinauszupeitschen. Überdies ist es politisch sehr geschickt, die Juden in Streitigkeiten untereinander zu verwickeln. Solange sie sich gegenseitig in den Haaren liegen, haben wir Gymnasion-Leute Ruhe vor ihnen. Es gibt keine mordgierigeren Menschen als die Juden. Zum Glück hassen ihre verschiedenen Parteien einander mehr als uns Heiden, wie sie uns nennen.«
Unterdessen rief die heisere, brüchige Stimme stets von neuem die gleichen Worte, so daß sie sich schließlich meinem Gedächtnis unvergeßlich einprägten. Diese Stimme verkündete die baldige Gründung eines Reiches, und in meinem augenblicklichen Seelenzustand konnte ich den Ruf nur als ein für mich bestimmtes Vorzeichen auffassen. Mir war, als hätten plötzlich jene Weissagungen, die ich den ganzen Winter über studiert hatte, die Masken dunkler Ausdrucksweise abgeworfen und stünden vor mir, zu einer einzigen klaren Aussage vereint: »Das Reich ist nahe.«
Noch immer hielt der Fremdenführer mich am Mantelzipfel fest und schwatzte weiter. »Bald kommt Passah, das jüdische Osterfest«, erzählte er. »In Kürze verlassen die letzten Karawanen und Schiffe mit Pilgern nach Jerusalem unsere Stadt. Ich bin schon neugierig, was für Keilereien es dieses Jahr wieder dort drüben geben wird.«
Unwillkürlich bemerkte ich: »Interessant wäre es ja, einmal die heilige Stadt der Juden zu sehen.«
Diese Worte brachten den Mann derart in Schuß, daß er loslegte: »Ein sehr kluger Wunsch, Herr! Der Tempel des Herodes ist nämlich eines der Weltwunder. Wer den auf seinen Reisen nicht besucht hat, der 'hat überhaupt nichts gesehen. Und wegen Keilereien, wie ich es ausdrückte, da brauchst du dich keineswegs zu ängstigen; ich habe nur einen Scherz gemacht. In ganz Judäa ist man auf den Straßen sicher, und in Jerusalem herrscht römische Zucht. Eine ganze Legion liegt im Lande, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Komm nur ein paar Schritte mit mir! Durch meine guten Beziehungen kann ich dir bestimmt noch einen Platz auf einem Schiff nach Joppe oder Cäsarea verschaffen. Natürlich wird man zuerst sagen, daß wegen des Passahfestes alles voll besetzt ist; aber ich werde mich schon für dich verwenden. Das wäre doch wirklich ein Skandal, wenn ein so vornehmer Römer wie du nicht auf einem Passagierschiff unterkäme.«
Er schleppte mich so eifrig am Mantel mit sich, daß ich fast ohne mein Zutun hinter ihm her in das Kontor eines syrischen Reeders gelangte, das tatsächlich bloß einige Schritte vom Gemüsemarkt entfernt lag. Bald stellte ich fest, daß ich nicht der einzige Fremde war, der über Ostern nach Jerusalem wollte. Neben Juden aus allen Teilen der Welt gab es hier auch viele Vergnügungsreisende, die gerade nur etwas Neues sehen wollten.
Nachdem der Fremdenführer eine Zeitlang meinetwegen so wutentbrannt gefeilscht hatte, wie nur ein Grieche mit einem Syrer feilschen kann, wurde ich plötzlich gewahr, daß ich eine Koje in einem nach Judäa bestimmten Pilgerschiff gemietet hatte. Man versicherte mir, es sei das einzige und letzte noch vor Ostern von Alexandria abgehende Schiff. Das Auslaufen habe sich deshalb verzögert, weil der Segler funkelnagelneu sei und auf einige letzte Ausrüstungsstücke habe warten müssen. Am nächsten Morgen aber werde er seine Jungfernfahrt antreten. Mit meiner Buchung für dieses Schiff sei ich auch der Angst vor dem dickkrustigen Schmutz und dem Ungeziefer enthoben, die sonst Seereisen an der Küste so widerwärtig machten.
Mein Fürsprecher knöpfte mir für seine Dienste fünf Drachmen ab; aber ich gönnte sie ihm, weil ich ein Vorzeichen empfangen und eine Entscheidung getroffen hatte. Er blieb im Kontor und freute sich schon darauf, auch dem Angestellten der Reederei eine Provision abpressen zu können. Am gleichen Abend suchte ich meinen Bankier auf und ließ mir einen in Jerusalem einzulösenden Kreditbrief ausstellen, da ich als erfahrener Reisender nicht überflüssigerweise große Summen Bargeld unterwegs bei mir tragen wollte. Ich zahlte meine Rechnung im Gasthof und beglich verschiedene andere Schulden. Im Laufe des Abends verabschiedete ich mich noch von jenen Bekannten, die ich nicht gut ohne ein Lebewohl verlassen konnte. Um mir spöttische Bemerkungen zu ersparen, sagte ich niemandem, wohin ich fuhr, sondern erklärte einfach, ich ginge auf Reisen und würde spätestens im Herbst zurückkommen.
In der Nacht lag ich lange wach und spürte stärker denn je, wie sehr der hektische Winter in Alexandria mir Geist und Körper gelähmt hatte. Diese Stadt mag, mit allen ihren Sehenswürdigkeiten, ein Weltwunder sein; dennoch kam mir vor, daß ich sie gerade noch verließ, bevor es zu spät wurde. Wäre ich länger geblieben, so hätte mich jene Seuche ergriffen, die in dieser so genußgierigen, so von der Weisheitslehre Griechenlands angekränkelten Stadt umgeht. Wer wie ich in Alexandria zu erschlaffen begonnen hat, kann, wenn er zu lange zaudert, leicht sein ganzes restliches Leben dort tatenlos verdämmern.
Deshalb dachte ich, eine Seereise und ein paar Tage unbeschwerten Wanderns auf den Römerstraßen Judäas würden mir an Leib und Seele wohltun. Aber es kam so wie gewöhnlich in solchen Fällen: als ich am nächsten Morgen, um das Schiff zu erreichen, in aller Frühe, nach allzu kurzem Schlaf, geweckt wurde, konnte ich nur fluchend mich selber einen ausgemachten Esel heißen, weil ich alle Annehmlichkeiten eines gesitteten Lebens aufgab, um das fremde, feindliche Judenland aufzusuchen und dort einem aus ein paar dunklen, orakelhaften Aussprüchen entsprungenen Hirngespinst nachzujagen.
Es trug keineswegs zu meiner Besänftigung bei, als ich, am Hafen angekommen, feststellen mußte, daß ich unvorstellbar schändlich hineingelegt worden war. Erst nach langem Suchen und Herumfragen entdeckte ich das Schiff und konnte zunächst nicht glauben, daß dieser erbärmliche, morsche, alte Kasten jenes ›funkelnagelneue‹ Schiff sein sollte, von dem der Syrer behauptet hatte, es werde gerade erst für seine Jungfernfahrt ausgerüstet. Daß es gestern noch nicht reisefertig gewesen war, mochte allerdings zweifellos zutreffen; denn es hätte sich kaum schwimmend erhalten, wäre es nicht bis zum letzten Augenblick kalfatert und geteert worden. Auf dem Schiff roch es wie in den Freudenhäusern von Kanopos; der Reeder hatte nämlich billigen Weihrauch verbrennen lassen, um die anderen Düfte an Bord zu übertäuben. Über die verrotteten Schiffsflanken waren farbige Tücher gehängt, und man hatte vom Markt eine Ladung welkender Blumen gebracht, um das Auslaufen festlich zu gestalten.
Kurz gesagt, dieser in aller Eile überteerte und zur Not seetüchtig gemachte Kasten sah in seiner Ausfahrtsvermummung einer alten Hafendirne gleich, die sich erst dann ans Tageslicht wagt, wenn sie sich rasch von Kopf bis Fuß in buntscheckige Fähnchen gehüllt, ihre Wangenrunzeln übermalt und dafür gesorgt hat, daß der Duft ihres billigen Parfüms sich längs ihres Weges verbreitet. Und den verschlagenen, hoffnungslos ernüchterten Blick eines solchen Wesens glaubte ich auch in den Augen des Zahlmeisters zu entdecken, als er mich mit der feierlichen Beteuerung, ich sei schon auf dem richtigen Schiff, empfing und zu meiner Koje führte, mitten zwischen Menschen, die schrien und johlten, weinten und zankten und in vielen verschiedenen Sprachen Abschiedsworte riefen.