Als der Gekreuzigte die Rufe hörte, hob er den zitternden Kopf und reckte sich auf seinen nageldurchbohrten Füßen hoch. Er war mit gebeugten Knien an das Kreuz geheftet worden, um nicht zu rasch durch Ersticken zu sterben. Jetzt rang er keuchend nach Atem, und krampfhafte Zuckungen schüttelten seine blutigen Glieder. Er öffnete die matten Augen, drehte den Kopf und blickte um sich, als suchte er etwas. Auf die Spottworte aber erwiderte er nichts; offenbar machten ihm die körperlichen Schmerzen genug zu schaffen.
Seine beiden Leidensgenossen hatten noch recht beträchtliche Kräfte. Der eine zur Linken fand es angebracht, den Zuschauern Gesichter zu schneiden. Um seine ungebrochene Zähigkeit zu beweisen, wandte er den Kopf dem König zu und stimmte – vermutlich im Bestreben, sich auf so jämmerliche Art ein Gefühl der Überlegenheit zu verschaffen – in die Spottrufe der Menge ein. »Bist du denn nicht der Gesalbte? So rette dich doch selbst und uns!«
Der zur Rechten aber schalt ihn von seinem Kreuze her, ergriff die Partei des Königs und sagte: »Wir leiden für unsere Missetaten. Dieser aber hat nichts Böses getan.« Dann wandte er sich demütig und zerknirscht an den König und bat: »Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!«
In einem solchen Augenblick, angesichts eines qualvollen Todes, konnte dieser Mann noch etwas von einem ›Reich‹ erhoffen! Über einen so beharrlichen Glauben hätte mein früheres Ich wahrscheinlich unbändig gelacht; nun aber war mir nicht nach Lachen zumute. Die von dem rechten Schacher gesprochenen Worte hatten viel zu mitleiderregend und erschütternd geklungen. Indes wuchs mein Staunen, als der Judenkönig seinem reuigen Schicksalsgenossen liebevoll den schmerzenden Kopf zuwandte und mit halb erstickter Stimme tröstend sagte: »Heute noch wirst du mit mir im Paradiesgarten sein.«
Ich wüßte nicht, was er damit meinte. Da kam gerade, mit forschenden Augen argwöhnisch die Menge musternd, ein jüdischer Schriftgelehrter vorbei. Ich hielt ihn an und fragte: »Was für ein Garten ist das, von dem euer König da sprach? Warum wurde er ans Kreuz geschlagen, wenn er nichts Böses getan hat?«
Der Schriftgelehrte brach in spöttisches Gelächter aus und entgegnete: »Bist du fremd in Jerusalem? Schenkst du den Worten eines Räubers mehr Glauben als dem Hohen Rat oder dem römischen Statthalter, die ihn verurteilt haben? Er ist nicht der König der Juden. Nur er selber hat sich so genannt und damit Gott gelästert. Sogar jetzt noch, am Kreuz, lästert er Gott, indem er vom Paradiesgarten redet.«
Er hüllte sein Oberkleid enger um sich, damit ja nicht eine Quaste an mich streife. Aufgebracht rief ich: »In dieser Sache werde ich mir Klarheit verschaffen!«
Er warf mir einen drohenden Blick zu und erwiderte warnend: »Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten! Du bist doch hoffentlich kein Anhänger von ihm? Er hat viele betört; aber jetzt ist ihm das Handwerk gelegt. Mit ihm brauchst du kein Mitleid zu haben. Er ist ein Volksverhetzer, ein Aufrührer; er ist ärger als die beiden Verbrecher neben ihm.«
Da machte sich meine Niedergeschlagenheit in einer zornigen Aufwallung Luft. Ich schob den Mann beiseite, schritt, ohne an meinen Aufzug und den hinter mir angebundenen Esel zu denken, auf den Zenturio zu und sagte grüßend, sicherheitshalber auf lateinisch: »Ich bin römischer Bürger, aber dieser Jude dort« – ich wies mit dem Finger auf den Schriftgelehrten – »bedroht mich.«
Der Hauptmann musterte mich im Halbdunkel forschend, seufzte verdrossen, ging waffenklirrend ein paar Schritte am Rand der Menschenansammlung hin und zwang sie, zurückzuweichen und vor den Kreuzen mehr Platz zu lassen. Dann erwiderte er, um seine Bildung zu zeigen, meinen Gruß auf lateinisch, wechselte aber sofort ins Griechische hinüber und meinte: »Nur immer mit der Ruhe, guter Freund! Wenn du wirklich römischer Bürger bist, so ist es unter deiner Würde, mit Juden Händel anzufangen, noch dazu am Vortage des Sabbats.«
Dann drehte er sich zu den Leuten um und rief, ohne seine Worte im besonderen an die Schriftgelehrten und Ältesten zu richten: »Jetzt verkrümelt euch aber, marsch nach Hause! Ihr habt lange genug eure Schnäbel gewetzt. Wunder gibt es hier keine mehr zu sehen. Trollt euch zu euren Lammbraten, und mir soll's recht sein, wenn euch jedem ein Knochen im Halse steckenbleibt!«
Aus dieser Zurechtweisung entnahm ich, daß es in der Menge außer feindseligen Gaffern auch Leute gab, die wirklich ein Wunder erwarteten und darauf hofften, ihr König würde aus eigener Kraft vom Kreuze steigen. Aber sie mußten sich schweigend im Hintergrund halten, aus Angst vor den eigenen Würdenträgern. Viele kamen jetzt der Aufforderung des Hauptmannes nach und kehrten in die Stadt zurück. Auch auf der Straße hatte die Menschenmenge sich gelichtet.
Der Hauptmann stieß mich vertraulich an und sagte: »Komm, trinken wir einen Schluck Wein! Diese Sache da geht uns beide persönlich nichts an. Ich bin nur dienstlich hier. Die Juden pflegen seit jeher ihre Propheten umzubringen; und wenn sie sich mit aller Gewalt darauf versteifen, daß ihr König mit römischer Hilfe gekreuzigt wird, so hat kein Römer Anlaß, ihnen in den Arm zu fallen.«
Er führte mich zu einem Platz hinter den Kreuzen, wo die Kleider der Verurteilten auf dem Boden lagen. Die Soldaten hatten die Gewänder unter sich aufgeteilt und in Bündel geschnürt. Der Zenturio hob den Weinschlauch seiner Abteilung auf und reichte ihn mir; aus Höflichkeit nahm ich einen Schluck von dem sauren Legionärswein, und auch der Offizier trank. Dann stöhnte er und sagte: »Am besten, man holt sich einen Schwips! Zum Glück ist mein Dienst am Abend zu Ende. Morgen ist Sabbat, und bei den Juden ist es nicht Brauch, Leichen über Nacht hängen zu lassen.«
Dann fuhr er fort: »Dieses ganze Jerusalem ist ein Riesenkorb voll zischender Vipern. Je näher ich die Juden kennenlerne, desto überzeugter bin ich davon, daß der beste Jude ein toter Jude ist. Darum kann es nicht schaden, wenn vor dem Fest am Straßenrand ein paar Vogelscheuchen hängen, als Abschreckung, damit nicht einer dieser Radaubrüder jemandem von uns unversehens das Messer in den Leib rennt. Aber der Mann dort am Kreuz ist unschuldig und wirklich ein Prophet.«
Die Finsternis hielt an; nur zeitweise erhellte sie sich zu einem rötlichen Schein, verdüsterte sich jedoch dann wieder. Die Luft war sengend heiß und erstickend. Der Hauptmann blickte auf und sagte: »Anscheinend hat der Wüstenwind Sand aufgewirbelt; aber eine so dichte Staubwolke habe ich bisher nie gesehen. Wenn ich Jude wäre, würde ich denken, die Sonne verhülle ihr Gesicht und der Himmel betrauere den Tod eines Gottessohnes. Für einen solchen gibt sich nämlich dieser Jesus aus, und deshalb hat man einen so qualvollen Tod über ihn verhängt.«
Allzu großer Hochachtung befleißigte er sich im Gespräch mit mir nicht; dabei musterte er in dem Halbdunkel angestrengt meine Kleidung und mein Gesicht, um herauszubekommen, welche Art Mensch ich sein mochte. Er versuchte zu lachen; aber das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken, und wieder blickte er den Himmel an.
»Auch die Tiere sind unruhig«, meinte er. »Hunde und Füchse fliehen in die Berge. Und die Kamele stehen seit dem Morgen störrisch vor den Toren und lassen sich nicht in die Stadthineintreiben. Ein böser Tag heute, für die ganze Stadt!«
»Ein böser Tag für die ganze Welt«, erklärte ich, von unbestimmten Vorgefühlen bewegt.
Der Hauptmann erschrak über meine Worte*. Abwehrend hob er die Hände und widersprach: »Diese Hinrichtung ist ganz offenkundig Sache der Juden und nicht der Römer. Der Prokonsul wollte den Mann nicht verurteilen, sondern hätte ihn laufen lassen. Aber die Leute schrien wie aus einem Munde: ›Kreuzige ihn, kreuzige ihn!‹ Ihr Hoher Rat drohte, die Angelegenheit dem Cäsar zu hinterbringen und sich darüber zu beschweren, daß man einem Aufrührer Vorschub geleistet habe. So hat dann der Stadthalter seine Hände in einem Becken mit geweihtem Wasser gewaschen, um sich von unschuldigem Blute zu reinigen. Die Juden aber heulten und schrien, sie würden es gern auf sich nehmen, wenn das Blut dieses Propheten über sie und ihre Kinder komme.«