Michael Ende
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
ERSTES KAPITEL
in dem die Geschichte anfängt
Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, hieß Lummerland und war nur sehr klein.
Es war sogar ganz außerordentlich klein im Vergleich zu anderen Ländern, wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika oder China. Es war ungefähr doppelt so groß wie unsere Wohnung und bestand zum größten Teil aus einem Berg mit zwei Gipfeln, einem hohen und einem, der etwas niedriger war.
Um den Berg herum schlängelten sich verschiedene Wege mit kleinen Brücken und Durchfahrten. Außerdem gab es auch noch ein kurvenreiches Eisenbahngleis. Es lief durch fünf Tunnels, die kreuz und quer durch den Berg und seine beiden Gipfel führten.
Häuser gab es natürlich auch in Lummerland, und zwar ein ganz gewöhnliches und ein anderes mit einem Kaufladen drin. Dazu kam noch eine kleine Bahnstation, die am Fuße des Berges lag. Dort wohnte Lukas der Lokomotivführer. Und oben auf dem Berg zwischen den beiden Gipfeln stand ein Schloß.
Man sieht also, das Land war ziemlich voll. Es paßte nicht mehr viel hinein.
Wichtig ist vielleicht noch, daß man sich sehr vorsehen mußte, die Landesgrenzen nicht zu überschreiten, weil man dann sofort nasse Füße bekam. Das Land war nämlich eine Insel.
Diese Insel lag mitten im weiten, endlosen Ozean, und die großen und kleinen Wellen rauschten Tag und Nacht an den Landesgrenzen.
Manchmal allerdings war das Meer auch still und glatt, so daß nachts der Mond und tags die Sonne sich darin spiegelten. Das war jedesmal besonders schön und feierlich, und Lukas der Lokomotivführer setzte sich dann immer an den Strand und freute sich.
Warum die Insel übrigens Lummerland hieß und nicht irgendwie anders, wußte kein Mensch. Aber sicherlich wird das eines Tages erforscht werden.
Hier also lebte Lukas der Lokomotivführer mit seiner Lokomotive. Die Lokomotive hieß Emma und war eine sehr gute, wenn auch vielleicht etwas altmodische Tender-Lokomotive. [1] Vor allem war sie ein bißchen dick.
Jetzt könnte natürlich leicht jemand fragen: Wozu ist denn in einem so kleinen Land eine Lokomotive notwendig?
Nun, ein Lokomotivführer braucht eben eine Lokomotive, denn was sollte er sonst führen? Vielleicht einen Fahrstuhl? Aber dann wäre er ein Fahrstuhlführer. Und ein richtiger Lokomotivführer will Lokomotivführer sein und sonst gar nichts. Außerdem gab es auf Lummerland auch gar keinen Fahrstuhl.
Lukas der Lokomotivführer war ein kleiner, etwas rundlicher Mann, der sich nicht im geringsten darum kümmerte, ob jemand eine Lokomotive notwendig fand oder nicht. Er trug eine Schirmmütze und einen Arbeitsanzug. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über Lummerland bei Schönwetter. Aber sein Gesicht und seine Hände waren fast ganz schwarz von Öl und Ruß. Und obwohl er sich jeden Tag mit einer besonderen Lokomotivführer-Seife wusch, ging der Ruß doch nicht mehr ab. Er war ganz tief in die Haut eingedrungen, weil Lukas sich eben seit vielen Jahren jeden Tag bei seiner Arbeit wieder schwarz machen mußte. Wenn er lachte - und das tat er oft -, sah man in seinem Mund prächtige weiße Zähne blitzen, mit denen er jede Nuß aufknacken konnte. Außerdem trug er im linken Ohrläppchen einen kleinen goldenen Ring und rauchte aus einer dicken Stummelpfeife.
Obwohl Lukas nicht besonders groß war, verfügte er doch über erstaunliche Körperkräfte. Zum Beispiel konnte er eine Eisenstange zu einer Schleife binden, wenn er wollte. Aber niemand wußte genau, wie stark er war, weil er Ruhe und Frieden liebte und seine Kraft nie hatte beweisen müssen.
Nebenbei war er übrigens auch noch ein Künstler. Und zwar im Spucken. Er zielte so genau, daß er ein brennendes Streichholz auf dreieinhalb Meter Entfernung auslöschte. Aber das war noch nicht alles. Er konnte noch etwas, und das machte ihm auf der ganzen Welt so leicht keiner nach: Er konnte nämlich einen Looping spucken.
Jeden Tag fuhr Lukas viele Male über das geschlängelte Gleis durch die fünf Tunnels von einem Ende der Insel zum anderen und wieder zurück, ohne daß sich jemals etwas Nennenswertes ereignete. Emma schnaufte und pfiff vor Vergnügen. Und manchmal pfiff auch Lukas ein Liedchen vor sich hin, und dann pfiffen sie zweistimmig, was sich sehr lustig anhörte. Besonders in den Tunnels, weil es da so schön hallte.
Außer Lukas und Emma gab es auf Lummerland noch ein paar Leute. Da war zum Beispiel der König, der über das Land regierte und in dem Schloß zwischen den beiden Gipfeln wohnte. Er hieß Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, weil er um Viertel vor zwölf geboren worden war. Er war ein ziemlich guter Herrscher. Jedenfalls konnte niemand etwas Nachteiliges von ihm sagen, weil man eigentlich überhaupt nichts von ihm sagen konnte. Meistens saß er mit seiner Krone auf dem Kopf in einem Schlafrock aus rotem Samt und mit schottisch karierten Pantoffeln an den Füßen in seinem Schloß und telefonierte. Zu diesem Zweck hatte er ein großes, goldenes Telefon.
König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte hatte zwei Untertanen - wenn man einmal von Lukas absieht, der eigentlich kein Untertan war, sondern Lokomotivführer.
Der eine Untertan war ein Mann namens Herr Ärmel. Herr Ärmel ging meistens mit einem steifen Hut auf dem Kopf und einem zusammengeklappten Regenschirm unter dem Arm spazieren. Er wohnte in dem ganz gewöhnlichen Haus und hatte keinen bestimmten Beruf. Er ging nur spazieren und war eben da. Er war hauptsächlich Untertan und wurde regiert. Manchmal klappte er den Schirm auch auf, meistens wenn es regnete. Mehr ist von Herrn Ärmel nicht zu erzählen.
Der andere Untertan war eine Frau, und zwar eine ganz besonders nette. Sie war rund und dick, wenn auch nicht ganz so dick wie Emma, die Lokomotive. Sie hatte rote Apfelbäckchen und hieß Frau Waas, mit zwei a. Wahrscheinlich war einer ihrer Vorfahren mal schwerhörig gewesen, und da hatten ihn die Leute einfach so genannt, wie er immer gefragt hatte, wenn er etwas nicht verstand. Und dabei war es dann geblieben.
Frau Waas wohnte in dem Haus mit dem Kaufladen, wo man alles besorgen konnte, was man so braucht: Kaugummi, Zeitungen, Schuhbänder, Milch, Schuheinlagen, Butter, Spinat, Laubsägen, Zucker, Salz, Taschenlampenbatterien, Bleistiftspitzer, Portemonnaies in Form von kleinen Lederhosen, Liebesperlen, Reiseandenken, Alleskleber - kurz: alles.
Reiseandenken wurden allerdings fast nie gekauft, weil keine Reisenden nach Lummerland kamen. Nur Herr Ärmel kaufte hin und wieder eines, mehr aus Gefälligkeit und weil es so billig war, nicht weil er es wirklich brauchte. Außerdem schwatzte er gern ein bißchen mit Frau Waas.
Ach, übrigens, um es nicht zu vergessen: Den König konnte man nur an Feiertagen sehen, weil er die meiste Zeit regieren mußte. Aber an Feiertagen trat er genau um Viertel vor zwölf ans Fenster und winkte freundlich mit der Hand. Dann jubelten seine Untertanen und warfen ihre Hüte in die Luft, und Lukas ließ Emma fröhlich pfeifen. Nachher gab es für alle Vanilleeis und an besonders hohen Feiertagen Erdbeereis. Das Eis bestellte der König bei Frau Waas, die eine Meisterin im Eismachen war.
Es war ein friedliches Leben auf Lummerland, bis eines Tages - ja, und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte.
ZWEITES KAPITEL
in dem ein geheimnisvolles Paket ankommt