„Diesen Fremdlingen werde ich ihr Süppchen schon versalzen", sprach er zu sich. „Ich werde sie als Spione verhaften und in den Kerker werfen lassen. Ich muß nur achtgeben, daß der Kaiser nichts von allem erfährt, sonst könnte es mir übel ergehen."
Dann ließ er den Hauptmann der kaiserlichen Palastwache rufen.
Der Hauptmann erschien, stand stramm und salutierte mit seinem großen, gebogenen Säbel. Er war ein riesiger, starker Kerl mit einem grimmigen, narbenbedeckten Gesicht. Aber so wild er auch aussah, in Wirklichkeit war er doch ein recht einfältiger Mensch. Das einzige, was er konnte, war gehorchen. Wenn ihm ein Bonze einen Befehl gab, dann führte er ihn aus, ohne darüber nachzudenken, ganz gleich, was für ein Befehl es war. Das hatte er nun einmal so gelernt, und dabei blieb er.
„Herr Hauptmann", sagte der Oberbonze, „bringen Sie mir die beiden Fremden, die draußen vor dem Palast warten. Aber reden Sie zu niemand darüber, verstanden?"
„Jawohl!" antwortete der Hauptmann, salutierte wieder und ging hinaus, um die Soldaten der Leibwache zu rufen.
ZEHNTES KAPITEL
in dem Lukas und Jim in große Gefahr geraten
Der Zirkus Lummerland hatte eben wieder eine Vorstellung beendet, und der Beifall der Zuschauer brauste über den Platz.
„So!" sagte Lukas zu Jim. „Jetzt gehen wir erst mal in Ruhe frühstücken. Jetzt haben wir ja genug Geld."
Und zu den Zuschauern gewandt, verkündete er:
„Es folgt jetzt eine kleine Pause!"
In diesem Augenblick öffneten sich die Ebenholzflügel des Palasttores, und die Treppe herunter marschierten dreißig uniformierte Männer. Sie hatten gezackte Helme auf dem Kopf und große gebogene Säbel zur Seite. Die Menge verstummte und machte ängstlich Platz. Die dreißig Soldaten marschierten auf Jim und Lukas zu. Sie stellten sich im Kreis um die beiden Freunde auf, und der Hauptmann trat auf Lukas zu.
„Ich bitte die sehr ehrenwerten Fremdlinge, mir ohne Zögern in den Palast zu folgen, wenn es angenehm ist", befahl er mit rauher, bellender Stimme.
Lukas musterte den Hauptmann von Kopf bis Fuß. Dann nahm er seine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie sorgfältig und zündete sie an. Als sie richtig brannte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Hauptmann zu und sagte gemächlich:
„Nein, es ist uns im Augenblick nicht angenehm. Wir wollen nämlich gerade frühstücken gehn. Bis jetzt habt ihr euch ja genug Zeit gelassen, und jetzt haben wir's nicht mehr so eilig." Der Hauptmann verzog sein narbenbedecktes Gesicht zu einem Grinsen, das höflich sein sollte, und bellte:
„Ich bin hier auf allerhöchsten Befehl und soll Sie beide holen. Ich muß den Befehl ausführen. Gehorchen ist mein Beruf."
„Meiner nicht", antwortete Lukas und paffte einige Wölkchen. „Wer sind Sie überhaupt?"
„Ich bin der Hauptmann der kaiserlichen Palastwache", schnarrte der Hauptmann und salutierte mit seinem Säbel.
„Hat Sie der Kaiser von China zu uns geschickt?" forschte Lukas weiter.
„Das nicht", sagte der Hauptmann. „Wir kommen von Herrn Pi Pa Po, dem Oberbonzen."
„Was meinst du, Jim?" wandte sich Lukas an seinen Freund. „Wollen wir erst frühstücken oder zuerst zu Herrn Pi Pa Po?"
„Ich weiß auch nicht", sagte Jim, dem das Ganze nicht recht geheuer schien.
„Na gut", meinte Lukas. „Wir wollen höflicher sein als er und ihn nicht warten lassen. Komm, Jim!"
Die Palastwache nahm die beiden Freunde in die Mitte. Sie stiegen die neunundneunzig Silberstufen hinauf und schritten durch das Tor in den Palast hinein. Hinter ihnen schlössen sich die schweren Ebenholzflügel.
Sie befanden sich jetzt in einem hohen Gang, der ungeheuer prächtig geschmückt war. Dicke, gewundene Säulen aus grünem Jadestein trugen eine Decke aus schimmerndem Perlmutter. Überall hingen Vorhänge aus rotem Samt und kostbarer geblümter Seide. Links und rechts zweigten Seitengänge ab. Dort sahen Jim und Lukas viele Türen, alle fünf Meter eine. Es waren unzählige Türen, denn jeder Seitengang hatte wieder Seitengänge und alle waren so lang, daß es schien, als nähmen sie überhaupt kein Ende.
„Dies, ehrenwerte Fremdlinge", erklärte der Hauptmann gedämpft, „ist das kaiserliche Amt. Wenn Sie geruhen wollen, mir zu folgen, dann werde ich Sie zu dem erlauchten Herrn Oberbonzen Pi Pa Po bringen."
„Eigentlich", brummte Lukas, „wollen wir lieber zum Kaiser und nicht zu Herrn Pi Pa Po."
„Der erlauchte Herr Oberbonze wird Sie gewiß zum erhabenen Kaiser geleiten", erwiderte der Hauptmann und verzog sein Gesicht zu einem höflichen Grinsen.
Sie marschierten also eine ganze Weile kreuz und quer durch die vielen Gänge, bis sie endlich vor einer Tür stehenblieben.
„Hier ist es", raunte der Hauptmann ehrfürchtig.
Lukas klopfte unbekümmert an und trat mit Jim ein. Die Soldaten blieben draußen im Gang stehen.
In dem Zimmer saßen drei sehr dicke Bonzen auf erhöhten Stühlen. Der Bonze in der Mitte hatte einen besonders hohen Stuhl und trug ein goldenes Gewand. Das war Herr Pi Pa Po. Alle drei hielten seidene Fächer in den Händen, mit denen sie sich Luft zufächelten. Vor jedem Bonzen hockte auf dem Boden ein Schreiber mit Tusche, Pinsel und Papier, denn in China schreibt man mit dem Pinsel.
„Guten Morgen, meine Herren!" sagte Lukas freundlich und tippte mit dem Finger an seine Mütze. „Sind Sie Herr Pi Pa Po, der Oberbonze? Wir möchten nämlich gern zum Kaiser."
„Guten Morgen!" erwiderte der Oberbonze lächelnd. „Zum Kaiser werden Sie wohl erst später kommen."
„Vielleicht", fügte der zweite Bonze hinzu und schielte zum Oberbonzen hinauf.
„Es ist nicht ganz ausgeschlossen", ließ sich der dritte Bonze vernehmen. Und alle drei nickten einander zu, und die Schreiber kicherten beifällig, beugten sich über ihre Papiere und schrieben die geistreichen Worte der Bonzen auf, um sie der Nachwelt zu erhalten.
„Erlauben Sie zunächst gütigst einige Fragen", sagte der Oberbonze. „Wer sind Sie beide?"
„Und woher kommen Sie eigentlich?" wollte der zweite Bonze wissen.
„Und was wollen Sie hier?" erkundigte sich der dritte.
„Ich bin Lukas der Lokomotivführer, und das hier ist mein Freund Jim Knopf", sagte Lukas. „Wir kommen aus Lummerland und wollen zum Kaiser von China, um ihm mitzuteilen, daß wir seine Tochter aus der Drachenstadt befreien werden."
„Sehr lobenswert!" meinte der Oberbonze lächelnd. „Aber das kann jeder sagen."
„Haben Sie Beweise?" fragte der zweite Bonze.
„Oder eine Erlaubnis?" setzte der dritte hinzu. Und wieder kicherten die Schreiber beifällig und schrieben alles für die Nachwelt auf, und die Bonzen fächelten sich und nickten einander lächelnd zu.
„Hören Sie mal, meine Herren Bonzen!" sagte Lukas, schob seine Mütze ins Genick und nahm die Pfeife aus dem Mund. „Was wollen Sie eigentlich? Sie sollten sich lieber nicht so aufblasen. Ich glaube nämlich, der Kaiser wird ziemlich ärgerlich sein, wenn er hört, wie Sie sich hier wichtig machen."
„Das", entgegnete der Oberbonze lächelnd, „wird er wahrscheinlich niemals erfahren."
„Ohne uns", erklärte der zweite Bonze selbstgefällig, „können die ehrenwerten Fremdlinge überhaupt nicht zum Kaiser gelangen."
„Und wir lassen Sie erst zu ihm, wenn wir alles genau geprüft haben", vollendete der dritte. Und wieder nickten die Bonzen sich lächelnd zu, und die Schreiber schrieben es auf und kicherten beifällig.