Dann wandte er sich zu dem Baby und sagte mit einer ganz vorsichtigen Stimme, um es nicht wieder zu erschrecken:
„Na, Jim, wollen wir Freunde sein?"
Da streckte das Baby seine kleine schwarze Hand mit den rosa Handballen nach ihm aus, und Lukas ergriff sie behutsam mit seiner großen schwarzen Hand und sagte:
„Hallo, Jim!"
Und Jim lachte.
Von diesem Tag an waren sie Freunde.
Eine Woche später kam der Briefträger wieder. Frau Waas ging zum Ufer und rief ihm schon von weitem zu, er solle ruhig weiterfahren und gar nicht erst an Land kommen. Es sei alles in bester Ordnung. Das Paket sei für sie gewesen. Der Name auf der Adresse wäre nur so unleserlich geschrieben gewesen.
Während sie das sagte, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, weil es ja geschwindelt war. Aber sie hatte so große Angst, daß der Briefträger ihr das Kind wieder wegnehmen würde. Und sie wollte Jim auf keinen Fall mehr hergeben, so gern hatte sie ihn jetzt schon.
Der Postbote rief aber nur: „Na, dann ist ja alles gut. Guten Morgen, Frau Waas!" und fuhr wieder davon.
Frau Waas atmete auf, lief schnell in ihr Haus mit dem Kaufladen und tanzte mit Jim auf dem Arm in der Stube herum. Aber auf einmal mußte sie daran denken, daß Jim in Wirklichkeit eben doch nicht ihr gehörte und sie vielleicht etwas ziemlich Schlimmes angestellt hatte. Und dieser Gedanke machte sie sehr traurig.
Auch später, als Jim schon größer war, kam es zuweilen vor, daß Frau Waas plötzlich ernst wurde, die Hände in den Schoß legte und Jim kummervoll ansah. Dann ging ihr durch den Kopf, wer wohl die wirkliche Mutter von Jim sein mochte…
„Ich werde ihm wohl bald einmal die Wahrheit sagen müssen", seufzte sie, wenn sie dem König oder Herrn Ärmel oder Lukas ihr Herz ausschüttete. Dann nickten die anderen meistens ernst und fanden auch, daß sie es tun sollte. Aber Frau Waas schob es immer wieder hinaus.
Freilich ahnte sie da noch nicht, daß der Tag nicht mehr fern war, an dem Jim alles erfahren würde, allerdings nicht von Frau Waas, sondem auf eine ganz andere und sehr seltsame Art.
Nun hatte Lummerland also einen König, einen Lokomotivführer, eine Lokomotive und zweieinviertel Untertanen, denn Jim war natürlich vorläufig viel zu klein, um schon als ganzer Untertan gerechnet zu werden.
Aber im Lauf der Jahre wuchs er heran und wurde ein richtiger Junge, der Streiche machte, Herrn Ärmel ärgerte und sich nicht besonders gerne waschen mochte - eben wie alle kleinen Buben. Das Waschen fand er besonders überflüssig, weil er ja sowieso schwarz war, und man gar nicht sehen konnte, ob sein Hals sauber war oder nicht. Aber Frau Waas ließ das nicht gelten, und Jim sah es schließlich auch ein.
Frau Waas war sehr stolz auf ihn, obgleich sie sich beständig wegen irgend etwas Sorgen um ihn machte - eben wie alle Mütter. Sie machte sich auch dann Sorgen, wenn eigentlich gar kein Grund dazu da war. Oder nur ein ganz kleiner Grund, wie zum Beispiel der, daß Jim die Zahnpasta lieber aufaß, statt sich damit die Zähne zu putzen. Er fand nämlich, daß sie gut schmeckte.
Andererseits machte Jim sich natürlich auch oft sehr nützlich. Zum Beispiel bediente er im Kaufladen, wenn der König oder Lukas oder Herr Ärmel etwas kaufen wollten und Frau Waas gerade keine Zeit hatte.
Jims bester Freund war und blieb Lukas der Lokomotivführer. Sie verstanden sich ohne viele Worte, schon allein deshalb, weil Lukas ja ebenfalls fast ganz schwarz war. Oft fuhr Jim auf der Emma mit, und Lukas zeigte und erklärte ihm alles. Manchmal durfte Jim unter Lukas' Aufsicht sogar schon ein Stück weit selbst fahren.
Jims größter Wunsch war nämlich, später auch Lokomotivführer zu werden, weil dieser Beruf so gut zu seiner Haut paßte. Aber dazu brauchte er erst einmal eine eigene Lokomotive. Und Lokomotiven sind bekanntlich ziemlich schwer zu bekommen, besonders in Lummerland.
So, jetzt wissen wir eigentlich alles Wichtige über Jim, und es bleibt nur noch zu erzählen, wie er zu seinem Nachnamen kam. Das war so:
Jim hatte immer ein Loch in seiner Hose und ausgerechnet immer an genau der gleichen Stelle. Frau Waas hatte es schon hundertmal geflickt, aber es war jedesmal nach ein paar Stunden wieder da. Dabei gab Jim sich wirklich die allergrößte Mühe, vorsichtig zu sein. Aber wenn er nur rasch einmal auf einen Baum klettern mußte oder von dem hohen Gipfel herunterrutschte - ratsch -, schon war das Loch wieder da.
Schließlich fand Frau Waas die Lösung, indem sie einfach die Ränder des Loches einsäumte und einen großen Knopf zum Zuknöpfen drannähte. Jetzt konnte man das Loch, statt es zu reißen, einfach aufknöpfen, dann war es da. Und statt es zu flicken, brauchte man es nur wieder zuzuknöpfen.
Von diesem Tag an wurde Jim von allen Leuten auf der Insel nur noch Jim Knopf genannt.
DRITTES KAPITEL
in dem beinahe ein trauriger Entschluß gefaßt wird, mit dem Jim nicht einverstanden ist
Die Jahre vergingen, und Jim Knopf war nun schon fast ein halber Untertan. In einem anderen Land hätte er sicher bereits auf einer Schulbank sitzen müssen, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber in Lummerland gab es keine Schule. Und weil es keine Schule gab, fiel es einfach niemand ein, daß der Junge alt genug war, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Jim selbst machte sich natürlich darüber keine Gedanken und lebte fröhlich in den Tag hinein.
Jeden Monat einmal wurde er von Frau Waas gemessen. Er mußte sich barfuß an den Türpfosten der kleinen Küche stellen, und Frau Waas kontrollierte mit einem Buch, das sie ihm auf den Kopf legte, wieviel er wieder gewachsen war. Dann machte sie einen Bleistiftstrich an den Türpfosten, und jedesmal war der Strich ein kleines Stückchen höher.
Frau Waas freute sich sehr über Jims Größerwerden. Aber jemand andrer machte sich schwere Sorgen darüber: der König, der das Land regieren mußte und der die Verantwortung für das Wohl seiner Untertanen trug.
Eines Abends rief er Lukas den Lokomotivführer zu sich in seinen Palast zwischen den beiden Gipfeln. Lukas trat ein, nahm seine Mütze ab und seine Pfeife aus dem Mund und sagte höflich:
„Guten Abend, Herr König!"
„Guten Abend, mein lieber Lukas der Lokomotivführer", erwiderte der König, der neben seinem goldenen Telefon saß, und wies mit der Hand auf einen leeren Stuhl, „bitte, nimm doch Platz!"
Lukas setzte sich hin.
„Nun denn", begann der König und räusperte sich ein paarmal, „Fürwahr, lieber Lukas, ich weiß nicht recht, wie ich es dir sagen soll. Aber ich hoffe, daß du es trotzdem verstehen wirst."
Lukas antwortete nichts. Das bedrückte Aussehen des Königs hatte ihn stutzig gemacht.
Der König räusperte sich noch einmal, blickte Lukas mit ratlosen und bekümmerten Augen an und begann von neuem:
„Du warst doch immer ein verständiger Mann, Lukas."
„Worum dreht sich's denn?" fragte Lukas vorsichtig.
Der König nahm seine Krone ab, hauchte darauf und putzte sie mit dem Ärmel seines Schlafrockes blank. Er tat das, um Zeit zu gewinnen, denn er war sichtlich verwirrt. Dann setzte er die Krone mit einem entschlossenen Ruck wieder auf seinen Kopf, räusperte sich noch einmal und sagte:
„Mein lieber Lukas, ich habe lange nachgedacht, aber endlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß es nicht anders geht. Wir müssen es tun."
„Was müssen wir tun, Majestät?" fragte Lukas,