Während die beiden Leibwächter Emma die Schleife mit dem Stern umhängten, brachen die abertausend Chinesen erneut in brausende Hochrufe aus.
Inzwischen hatte Ping Pong, der vor lauter Aufregung immerfort in die Höhe hüpfte und herumrannte und sich keinen Augenblick still halten konnte, nach dem Oberhoftierwärter des kaiserlichen Parks geschickt und ihm ausrichten lassen, er solle sofort mit seinen Gehilfen kommen und den Drachen abholen. Kaum war die Zeremonie der Ordensverleihung vorüber, da kam dieser auch schon mit sechs starken Knechten und einem riesigen Käfig, der auf Rädern fuhr und von vier Pferden gezogen wurde. Der Drache war so kleinlaut, daß er ohne Sträuben in den Käfig hineintrottete, nachdem Lukas ihn von der Kette befreit hatte. Als das Fuhrwerk davonrollte, fragte Lukas:
„Wo bringt ihr ihn denn hin? Ich muß nämlich noch mit ihm reden."
„Wir sperren ihn vorläufig einmal in das alte Elefantenhaus", antwortete Ping Pong mit wichtiger Miene. „Du kannst ihn jederzeit besuchen, ehrenwerter Führer einer ordengeschmückten Lokomotive."
Lukas nickte befriedigt und folgte mit Jim und den anderen Kindern dem Kaiser und der kleinen Prinzessin in den Palast, um im Thronsaal erst einmal gemütlich zu frühstücken.
Emma konnte natürlich nicht mit, sondern mußte auf dem Platz zurückbleiben, aber den ganzen Tag drängten sich die Chinesen um sie, die jetzt selbstverständlich kein bißchen Angst mehr vor ihr hatten. Sie fütterten sie mit Öl, weil ein weiser Mann irgendwo gelesen hatte, daß Lokomotiven gerne Öl mögen, und putzten an ihr herum und wuschen ihr den Schmutz ab und rieben sie mit feinen Tüchern blank, bis sie schließlich strahlte und blinkte, als ob sie neu wäre.
Währenddessen saßen der Kaiser und Li Si mit ihren Gästen auf der Terrasse vor dem Thronsaal in der Morgensonne beim Frühstück. Und wie versprochen, bekam jedes Kind das, was es am liebsten mochte. Der kleine Eskimo zum Beispiel aß Walfischschnitten und trank dazu eine große Tasse Lebertran. Der Indianerjunge bekam Maisbrot und am Spieß gebratene Büffelscheiben, und danach rauchte er aus seiner kleinen Friedenspfeife genau vier Züge, in jede Himmelsrichtung einen. Kurz und gut, jedes Kind hatte das, was es bei ihm zu Hause gab.
Das waren natürlich lang entbehrte Genüsse! Jim und Lukas taten sich an frischen Honigsemmeln und einer großen Kanne Kakao gütlich. Und zum erstenmal seit langer Zeit griff auch der Kaiser wieder tüchtig zu.
Als der Oberhofkoch Schu Fu Lu Pi Plu erschien, um sich zu erkundigen, wie es den ehrenwerten Gästen schmeckte, wurde er von Jim und Lukas mit fröhlichem Hallo begrüßt. Der Oberhofkoch hatte sich übrigens zur Feier des Tages wieder seine allergrößte Kochmütze aufgesetzt, die so groß war wie ein Federbett.
Der Kaiser fragte ihn, ob er sich nicht ein bißchen zu ihnen setzen wolle, um die Geschichten der Kinder und der beiden Freunde mit anzuhören. Herr Schu Fu Lu Pi Plu hatte gerade etwas Zeit und nahm, gerne Platz.
Nach der Reihe erzählten nun alle noch einmal ihre Abenteuer dem gespannt lauschenden Kaiser. Als sie damit fertig waren und auch alles aufgegessen hatten, meinte Lukas:, „Ich schlage vor, Leute, wir legen uns jetzt alle für eine Weile aufs Ohr. Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich jedenfalls bin zum Umfallen müde."
Die meisten der Kinder hatten schon mehrmals heimlich gegähnt, und das kleinste war bereits vor einer ganzen Weile auf seinem Kissen eingeschlafen. So waren alle recht froh über den Vorschlag.
„Nur noch eine Frage zuvor, meine Freunde!" sagte der Kaiser. „Habt ihr Lust, ein paar Wochen bei uns zu Gast zu bleiben und euch erst einmal richtig zu erholen? Ihr seid herzlich eingeladen. Oder", fügte er lächelnd hinzu, „wollt ihr vielleicht lieber sofort in eure Heimatländer fahren?"
„Ach, bitte, wenn es sich machen ließe", antwortete der kleine Indianer, „ich möchte lieber schnell nach Hause. Je eher, je lieber." „Ich auch! Ich auch!" riefen die anderen Kinder. „Gut", meinte der Kaiser verständnisvoll, „ich hätte euch natürlich sehr gern noch eine Weile zu Gast gehabt. Aber ich sehe ein, daß ihr lieber heim wollt. Mein Oberbonze Ping Pong wird veranlassen, daß sofort ein Schiff ausgerüstet wird."
„Danke!" sagte der kleine Indianer erleichtert.
Für jeden war inzwischen ein eigenes Gemach vorbereitet worden, in dem ein wundervolles Himmelbett stand. Man kann sich vorstellen, wie herrlich die Kinder, die so lange Zeit auf steinernen Betten hatten liegen müssen, in den weichen Seidenkissen schlummerten.
Die beiden Freunde hatten natürlich ein gemeinsames Zimmer bekommen, in dem ein zweistöckiges Himmelbett stand. Jim zog seine Schuhe aus und kletterte über eine kleine Leiter in die obere Etage hinauf. Er hatte sich noch kaum auf den seidenen Decken ausgestreckt, als er auch schon fest eingeschlafen war.
Lukas dagegen saß auf dem Rand der unteren Etage und stützte nachdenklich das Kinn in die Hand. Ihm gingen verschiedene sehr schwierige Fragen durch den Kopf:
Die kleine Prinzessin war nun also glücklich wieder bei ihrem Vater. Auch die übrigen Kinder würden bald zu Hause sein. Soweit war alles gut. Aber was sollte aus ihm und Jim werden? Sie beide konnten ja nicht einfach nach Lummerland zurückkehren. Einmal deshalb, weil König Alfons ganz bestimmt sehr erbost darüber war, daß sie damals, ohne etwas zu sagen, mit Emma die Insel verlassen hatten, anstatt seinen Anordnungen zu folgen. Es bestand wenig Aussicht, daß er ihnen jetzt ohne weiteres erlauben würde, wiederzukommen. Und selbst wenn der König nicht mehr böse auf sie wäre, könnten sie nicht zurückkehren, weil sonst alles wieder ganz genau so sein würde wie damals, als sie sich entschlossen hatten, alle drei wegzufahren. Schließlich war Lummerland inzwischen ja nicht größer geworden. Sollten sie sich nicht vielleicht doch von der dicken, alten Emma trennen, sie hier in China lassen und nur zu zweit nach ihrer Insel zurückfahren? Lukas stellte sich vor, was er ohne Emma in Lummerland tun würde. In Gedanken versunken schüttelte er den Kopf. Von Emma konnte er sich nicht trennen. Jetzt, nach all den Abenteuern, die sie zusammen erlebt hatten und in denen sie so treu und zuverlässig gewesen war, weniger denn je. Nein, das war auch keine Lösung. Aber vielleicht war der erhabene Kaiser damit einverstanden, daß sie hier blieben und eine Eisenbahnlinie quer durch China legten. Das war natürlich ein bißchen traurig, denn China war trotz allem ein fremdes Land, aber es war die einzige Möglichkeit, und irgendwo mußten sie ja bleiben, wenn sie nicht immer weiter durch die Welt fahren wollten.
Lukas seufzte, stand auf und ging leise aus dem Zimmer, um sich mit dem Kaiser zu besprechen. Er fand ihn auf der Terrasse vor dem Thronsaal unter einem Sonnenschirm sitzend und in einem Geschiehtenbuch lesend.
„Verzeihen Sie, wenn ich störe, Majestät", sagte Lukas, als er auf ihn zutrat.
Der Kaiser schlug sein Buch zu und rief erfreut:
„Mein lieber Lukas, das ist ausgezeichnet, daß wir uneinmal allein unterhalten können. Ich möchte nämlich gerne mit Ihnen eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit ins reine bringen."
„Das möchte ich auch", antwortete Lukas ernst, während er dem Kaiser gegenüber Platz nahm, „aber sagen Sie erst, was Sie auf dem Herzen haben."
„Wie Sie sich vielleicht erinnern", begann der Kaiser, „habe ich mich öffentlich verpflichtet, meine Tochter demjenigen zu vermählen, der sie aus der Drachenstadt befreit."