„Ja, das haben Sie getan, Majestät", antwortete Lukas.
„Aber nun seid ihr ja zwei", fuhr der Kaiser fort. „Was ist da zu tun? Wer von euch beiden soll sie denn bekommen?"
„Das ist ganz einfach", meinte Lukas bedächtig. „Derjenige, den sie selbst am liebsten mag und dem sie zuerst einen Kuß gegeben hat."
„Und wer ist das?" fragte der Kaiser gespannt.
„Jim Knopf natürlich", sagte Lukas. „Wenn ich mich nicht irre, haben die beiden sich sehr gern -" und schmunzelnd setzte er hinzu: „Wenn sie sich auch vorläufig über manche Dinge noch nicht ganz einig geworden sind, zum Beispiel, ob es nötig ist, lesen und schreiben zu lernen. Jedenfalls passen sie sehr gut zueinander, finde ich. Und außerdem war es Jim, der Li Si befreit hat. Darüber besteht kein Zweifel. Ich und Emma, wir haben ihm bloß dabei geholfen."
„Ach, das freut mich aber wirklich", erwiderte der Kaiser befriedigt. „Ich bin übrigens ganz Ihrer Meinung, lieber Freund. Die beiden passen wirklich sehr gut zueinander. Zwar sind sie noch ein bißchen zu klein, um zu heiraten, aber sie können sich ja zunächst einmal verloben."
„Das überlassen wir den beiden am besten selbst", schlug Lukas vor.
„Richtig", stimmte der Kaiser zu, „wir wollen uns nicht zu sehr einmischen. Aber sagen Sie, lieber Lukas, wie kann ich mich denn nun bei Ihnen bedanken? Leider habe ich nur diese eine Tochter, sonst würde ich Ihnen ebenfalls eine Prinzessin zur Frau geben. Doch das geht ja nun leider nicht. Haben Sie vielleicht irgendeinen Wunsch, den ich erfüllen kann? Bitte, sprechen Sie ihn aus! Aber es soll wirklich ein großer Wunsch sein, der größte, den Sie haben."
„Den können Sie mir nicht erfüllen, Majestät", antwortete Lukas und schüttelte langsam den Kopf. „Der wäre nämlich, daß ich mit Jim und Emma zusammen nach Lummerland zurückkehren könnte. Aber Sie wissen ja, warum wir von dort weggefahren sind. Die Insel ist nicht groß genug für uns alle. Es wäre ein Wunder nötig, um diesen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Aber ich habe eine andere Bitte, Majestät: Lassen Sie mich eine Eisenbahnlinie quer durch China anlegen. Das wäre nützlich für Sie und Ihre Untertanen, und meine gute alte Emma käme endlich wieder auf ordentliche Schienen."
„Mein verehrter Freund", sagte der Kaiser mit leuchtenden Augen, „ich danke Ihnen, daß Sie bei uns bleiben wollen. Sie bereiten mir eine große Freude damit. Ich werde sofort befehlen, daß Ihnen das schönste und längste Eisenbahngleis mit den prunkvollsten Bahnhöfen gebaut wird, das die Welt je gesehen hat. Ich hoffe Ihnen dadurch ein wenig zu helfen. Ihre geliebte Heimatinsel nach und nach vergessen zu können."
„Danke schön", antwortete Lukas. „Sie meinen es gut, Majestät. Das ist sehr nett von Ihnen."
In diesem Augenblick trat der kleine Ping Pong auf die Terrasse heraus, verneigte sich tief und piepste:
„Erhabener Kaiser, das Schiff für die Kinder liegt im Hafen. Heute abend gegen Sonnenuntergang ist es bereit, in See zu stechen."
„Sehr schön", erwiderte der Kaiser und nickte Ping Pong zu, „du bist wirklich ein außerordentlich tüchtiger Oberbonze."
Lukas stand auf.
„Ich glaube, fürs erste haben wir alles besprochen, Majestät. Wenn Sie nichts dagegen haben, dann lege ich mich jetzt auch schlafen. Ich bin todmüde."
Der Kaiser wünschte ihm angenehme Ruhe, und Lukas ging in das Zimmer mit dem zweistöckigen Himmelbett zurück. Jim, der von der Abwesenheit seines Freundes nichts gemerkt hatte, atmete ruhig und tief im Schlaf. Lukas streckte sich auf dem unteren Bett aus, und während er schon am Einschlummern war, dachte er: „Was Jim wohl dazu sagen wird, daß wir hierbleiben und nicht nach Lummerland heimfahren? Oder wird er vielleicht noch lieber allein nach Hause zurückkehren wollen und mich und Emma verlassen? Ich könnt's schon verstehen." Und Lukas seufzte tief, und dann schlief auch er.
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
in dem Frau Mahlzahn sich verabschiedet und ein Brief aus Lummerland ankommt
Es war gegen Mittag, als Lukas und Jim durch heftiges Pochen an die Tür aus dem Schlaf geweckt wurden.
„Macht auf! Macht auf! Es ist sehr wichtig!" hörten sie ein piepsendes Stimmchen rufen.
„Das is' Ping Pong", sagte Jim, kletterte aus der i. Etage herunter und öffnete die Tür.
Herein schoß der winzige Oberbonze, ganz außer Atem, und zwitscherte: „Verzeiht, ihr erhabenen Freunde, wenn ich eure Ruhe so unsanft unterbreche, aber ich soll einen schönen Gruß vom Drachen ausrichten, und ihr sollt doch so freundlich sein und sofort zu ihm kommen, es wäre dringend."
„Nanu!" brummte Lukas, etwas ungehalten. „Was soll denn das bedeuten? Er soll sich gefälligst gedulden."
„Er sagte", schnatterte Ping Pong, „er müsse sich von euch verabschieden, aber er wolle euch vorher noch etwas mitteilen."
„Verabschieden?" fragte Lukas verdutzt. „Was fällt denn dem ein?"
„Ich glaube, es ist ernst", meinte Ping Pong mit besorgter Miene. „Er macht so einen sonderbaren Eindruck, als ob er… als ob er…"
„Als ob er was?" forschte Lukas. „Sprich nur zu Ende."
„Ich weiß nicht recht", stieß der kleine Oberbonze hervor. „Ich glaube, er stirbt."
„Er stirbt?" rief Lukas und wechselte einen bestürzten Blick mit Jim. Das hatten sie natürlich, trotz allem, wieder nicht gewollt. „Na, das wäre eine schöne Geschichte!"
Rasch schlüpften sie in ihre Schuhe und folgten Ping Pong eilig in den Garten des Palastes. Sie fanden den Drachen in einem großen, halb verfallenen Pavillon, der vor Jahren als Stall für die kaiserlichen weißen Elefanten gedient hatte. Hier lag er hinter dicken Gitterstäben, hatte den Kopf auf die Tatzen gelegt und hielt die Augen geschlossen, als ob er schliefe.
Ping Pong hielt sich vorsichtig im Hintergrund, während Lukas und Jim nahe an die Gitterstäbe herantraten.
„Na, was gibt's denn?" fragte Lukas. Seine Stimme klang unwillkürlich ein wenig freundlicher, als er beabsichtigt hatte.
Der Drache antwortete nicht, rührte sich auch nicht, statt dessen geschah etwas sehr Merkwürdiges. Es war nämlich, als liefe plötzlich von der Spitze der Schnauze über den ganzen riesigen Leib bis zum Schwanzende ein goldener Schimmer.
„Hast du das gesehen?" flüsterte Lukas, und Jim antwortete ebenso leise: „Ja, was kann er nur haben?"
Jetzt öffnete der Drache langsam seine kleinen Augen, die aber nicht mehr wie früher tückisch funkelten, sondern nur noch sehr, sehr müde aussahen.
„Danke, daß ihr gekommen seid", murmelte der Drache mit schwacher Stimme. „Verzeiht, aber ich kann nicht mehr lauter sprechen. Ich bin so schrecklich müde - so schrecklich müde…"
„Hör mal, er schnarrt und zischt gar nicht mehr", flüsterte Jim. Lukas nickte. Dann fragte er laut:
„Sagen Sie, Frau Mahlzahn, Sie werden doch nicht sterben?"
„Nein", antwortete der Drache, und es war, als ob für eine Sekunde ein Lächeln über sein häßliches Gesicht huschte. „Es geht mir ganz gut, macht euch keine Sorgen um mich. Ich habe euch nur rufen lassen, um mich bei euch zu bedanken…"
„Wofür denn?" fragte Lukas, zum erstenmal genauso verblüfft wie Jim, der vor Staunen wieder mal kugelrunde Augen bekam.
„Dafür, daß ihr mich überwunden habt, ohne mich zu töten. Wer einen Drachen überwinden kann, ohne ihn umzubringen, der hilft ihm, sich zu verwandeln. Niemand, der böse ist, ist dabei besonders glücklich, müßt ihr wissen. Und wir Drachen sind eigentlich nur so böse, damit jemand kommt und uns besiegt. Leider werden wir allerdings dabei meistens umgebracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, so wie bei euch und mir, dann geschieht etwas sehr Wunderbares…"