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Der Drache schloß die Augen und schwieg eine Weile, und wieder lief dieser merkwürdige goldene Schimmer über seinen Leib. Lukas und Jim warteten stumm, bis er seine Augen wieder öffnete und mit noch matterer Stimme fortfuhr:

„Wir Drachen wissen sehr viel. Aber solange wir nicht überwunden worden sind, fangen wir damit nur Arges an. Wir suchen uns jemand, den wir mit unserem Wissen quälen können - so wie ich zum Beispiel die Kinder. Ihr habt es ja gesehen. Wenn wir aber verwandelt sind, dann heißen wir,Goldener Drache der Weisheit', und man kann uns alles fragen, wir wissen alle Geheimnisse und lösen alle Rätsel. Aber das kommt alle tausend Jahre nur einmal vor, weil eben die meisten von uns getötet werden, ehe es zur Verwandlung kommt."

Wieder schwieg der Drache und zum drittenmal huschte der goldene Schimmer über ihn hin. Aber diesmal war es, als bliebe eine winzige Spur des Goldes an seinen Schuppen hängen, nur so viel wie der Hauch von Glanz, den man an den Fingern behält, wenn man einen Schmetterling berührt hat. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder seine Augen aufschlug und kaum noch hörbar weitersprach:

„Das Wasser des Gelben Flusses, in dem ich geschwommen bin, hat mein Feuer ausgelöscht. Jetzt bin ich sterbensmüde. Wenn der goldene Schimmer das nächste Mal über mich gehen wird, werde ich in einen tiefen Schlaf versinken, und es wird aussehen, als wäre ich tot. Aber ich werde nicht sterben. Ich werde ein ganzes Jahr lang reglos liegen. Bitte, sorgt dafür, daß mich niemand berührt in dieser Zeit. Nach einem Jahr, von dieser Stunde an, werde ich aufwachen und ein,Goldener Drache der Weisheit' sein. Dann kommt zu mir, und ich werde euch alle Fragen beantworten. Denn ihr beiden seid meine Herren, und was ihr mir befehlt, werde ich tun. Um euch aber meine Dankbarkeit zu beweisen, möchte ich euch schon jetzt einen Gefallen tun. Ein wenig von meiner zukünftigen Weisheit habe ich nämlich schon, wie ihr an dem goldenen Schimmer sehen könnt, der an mir hängengeblieben ist. Wenn ihr also etwas wissen wollt, dann fragt mich. Aber eilt euch, es bleibt wenig Zeit."

Lukas kratzte sich hinter dem Ohr. Jim zupfte ihn am Ärmel und flüsterte ihm zu: „Lummerland!"

Lukas verstand sofort und fragte:

„Emma, die Lokomotive, Jim Knopf und ich, wir sind alle drei von Lummerland fortgegangen, weil für einen von uns kein Platz mehr war. Was sollen wir tun, damit wir wieder zurückkönnen, ohne daß es zu eng wird. Lummerland ist nämlich nur sehr klein."

Eine ganze Weile sagte der Drache nichts, und Jim fürchtete schon, er sei eingeschlafen. Aber schließlich kam die nur noch gehauchte Antwort:

„Stecht morgen genau bei Sonnenaufgang in Richtung Lummerland in See. Am zweiten Tag eurer Heimreise werdet ihr um zwölf Uhr mittags auf dem Punkt 321 Grad 21 Minuten i Sekunde westliche Länge und 123 Grad 23 Minuten 3 Sekunden nördliche Breite einer schwimmenden Insel begegnen. Ihr dürft euch aber nicht verspäten, sonst treibt sie vorbei, und ihr findet sie nicht mehr. Diese Art von Inseln ist sehr selten. Nehmt euch auch ein paar Zweige von Korallenbäumen mit, die vom Meeresgrund emporwachsen, und werft sie neben Lummerland ins Wasser, genau dort, wo ihr die schwimmende Insel verankert. Aus den Korallenzweigen werden Bäume wachsen, die die Insel von unten stützen, und bis Jim ein ganzer Untertan sein wird, ist daraus ein festes Eiland geworden, ebenso haltbar und sicher wie Lummerland… vergeßt nicht…"

„Bitte!" rief Jim, der sah, daß der Drache die Augen schloß, „woher haben mich die Dreizehn geraubt, eh' sie mich in das Postpaket gesteckt haben?"

„Ich… kann nicht…" flüsterte der Drache. „Verzeiht… das… ist eine… lange… Geschichte… aber… jetzt…"

Er verstummte, und zum letztenmal lief der goldene Schimmer über seine Schuppen.

„Lebt… wohl… lebt… wohl" hauchte er kaum noch vernehmbar, dann sank er auf die Seite. Es sah tatsächlich ganz so aus, als wäre er gestorben. Nur, daß der Goldglanz sich verstärkt hatte.

„Da ist nichts mehr zu machen", sagte Lukas gedämpft. „Wir müssen bis nächstes Jahr warten. Aber der Rat, den er uns gegeben hat, ist nicht schlecht. Vorausgesetzt, daß die Geschichte mit der schwimmenden Insel stimmt."

„Was sich gerade mit dieser bisher so unerfreulichen Person ereignet hat", bemerkte Ping Pong, der inzwischen seine Furcht überwunden hatte und zu den beiden Freunden getreten war, „ist höchst rätselhaft und geheimnisvoll. Wenn es euch recht ist, so wollen wir zum erhabenen Kaiser gehen und ihm davon berichten."

Damit raffte er seinen winzigen goldenen Schlafrock zusammen und schritt eilig davon. Lukas und Jim folgten ihm…

Eine Viertelstunde später saßen sie alle drei dem Kaiser im Thronsaal gegenüber und besprachen mit ihm das Geschehene.

„Wahrhaftig", sagte der Kaiser endlich, „ich habe in meinem langen Leben viel gesehen und gehört, aber nichts scheint mir so wunderbar, meine Freunde. Selbstverständlich werde ich veranlassen, daß die Verwandlung des Drachen durch nichts und niemand gestört wird."

„Dann könnten wir also morgen früh beruhigt in Richtung Lummerland in See stechen und sehen, ob wir der schwimmenden Insel wirklich begegnen", meinte Lukas und paffte hoffnungsvoll. „Das wäre natürlich schon sehr viel wert."

„Meinst du", fragte Jim, „daß König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte uns erlauben würde, die Insel neben Lummerland zu pflanzen?"

„Aber warum sollte er das denn nicht?" rief der Kaiser verwundert. „Er wird sich sehr darüber freuen."

„So einfach ist das leider nicht, Majestät", meinte Lukas. „Wir haben Ihnen nämlich noch nicht erzählt, daß Jim und ich damals mit Emma einfach auf und davon sind, bei Nacht und Nebel sozusagen. Niemand auf Lummerland wußte was davon. Der König und Frau Waas werden vermutlich ziemlich böse auf uns sein. Sie werden sagen, Jim sei ausgerissen, und ich hätte die Schuld. Von ihrem Standpunkt aus haben sie ja auch nicht ganz unrecht. Vielleicht wollen sie nicht, daß wir zurückkommen."

„Ich werde mitfahren", bot der Kaiser an, „und König Alfons alles erklären."

Doch in diesem Augenblick schlug sich der kleine Ping Pong plötzlich vor die Stirn und rief:

„Ach, du liebe Zeit! Du liebe Zeit! Ich bitte euch fünftausendmal um Vergebung, ihr ehrenwerten Lokomotivführer!"

„Was is' denn passiert?" erkundigte sich Jim.

„Etwas Schreckliches ist passiert, etwas ganz Entsetzliches!" piepste Ping Pong außer sich. „Über all dem Trubel mit eurer Ankunft und der Ausrüstung des Schiffes für die Kinder und der Geschichte mit dem Drachen habe ich das Wichtigste vergessen. Ach, ich Unglückswurm! Ich vergeßliches Fliegengehirn!"

„Beruhige dich, Ping Pong!" mahnte der Kaiser, „und sage uns, was es gibt!"

„Schon vor drei Tagen ist ja ein Brief für die beiden ehrenwerten Lokomotivführer angekommen", jammerte der Oberbonze. „Ein Brief aus Lummerland!"

„Was? Her damit!" riefen Jim und Lukas wie aus einem Mund.

Ping Pong raste davon, wie er bisher nur einmal gerast war, damals, als es um die Rettung der beiden Freunde vor der Palastwache ging.

„Woher können sie denn in Lummerland wissen, wo wir sind?" fragte Jim aufgeregt.

„Na, erinnerst du dich denn nicht mehr?" sagte Lukas. „Wir haben ihnen doch geschrieben, eh' wir in die Drachenstadt aufbrachen. Das muß der Antwortbrief sein. Jetzt muß es sich entscheiden. Wo bleibt denn Ping Pong?"