Aber noch bevor Lukas ausgesprochen hatte, war der winzige Oberbonze schon wieder da und überreichte Lukas einen ziemlich dicken Brief, der mit rotem Siegellack verschlossen und mit dem Wappen König Alfons des Viertel-vor-Zwölften versehen war. Die Adresse lautete:
An Lukas den Lokomotivführer und Jim Knopf
zur Zeit in Ping (Hauptstadt von China)
Kaiserlicher Palast.
Und auf der Rückseite stand:
Absender: König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte
Frau Waas
Herr Ärmel
Lummerland
Lukas riß den Umschlag auf, und seine dicken Finger zitterten ein wenig, als er das Papier auseinanderfaltete. Es waren drei Blätter. Er las vor, was auf dem ersten stand:
„Lieber Lukas der Lokomotivführer! Lieber Jim Knopf!
Durch euren Brief wissen wir ja nun Gott sei Dank endlich, wo ihr seid. Glaubt mir, als wir merkten, daß ihr nicht mehr hier wart, trauerte das ganze Volk von Lummerland, das heißt, soviel vom Volk eben noch da war. Auch ich selbst trauerte ganz erheblich. Alle Fahnen auf meinem Schloß tragen seither Trauerflor. Es ist sehr still und einsam geworden auf unserer kleinen Insel. Niemand pfeift mehr zweistimmig in den Tunnels, wie Lukas und Emma es taten, und niemand rutschte mehr von dem großen Gipfel herunter wie Jim Knopf. Wenn ich an Sonnund Feiertagen um Viertel vor zwölf ans Fenster trete, ist kein Jubel mehr zu hören. Meine restlichen Untertanen stehen so traurig da, daß es mir das Herz zerbricht. Das gute Erdbeereis von Frau Waas will keinem von uns mehr schmecken.
Das hatte ich natürlich nicht beabsichtigt, als ich damals anordnete, die dicke alte Emma abzuschaffen. Ich habe inzwischen eingesehen, daß diese Maßnahme für uns alle keine befriedigende Lösung darstellt.
Darum bitte ich euch nun alle drei, zurückzukehren, so bald ihr könnt. Wir sind euch bestimmt nicht böse und hoffen nur, daß auch ihr uns nicht mehr böse seid. Ich weiß mir zwar noch immer keinen Rat, was einmal werden soll, wenn Jim Knopf größer wird und eine eigene Lokomotive und ein eigenes Eisenbahngleis braucht, aber wir werden schon irgend einen anderen Ausweg finden. Also kommt bald!
Mit besonders huldvoller Gnade schreibt dies
König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte."
„Lukas!" stammelte Jim, dessen Augen größer und größer geworden waren, „das bedeutet doch…"
„Augenblick!" sagte Lukas, „es geht noch weiter."
Er faltete das zweite Papier auseinander und las:
„Mein lieber kleiner Jim! Lieber Lukas!
Wir sind alle furchtbar traurig und wissen gar nicht mehr, was wir anfangen sollen ohne euch. Ach, Jim, warum hast du mir denn nichts davon gesagt, daß du unbedingt fort fahren wolltest. Ich hätte es schließlich schon verstanden. Und ich hätte dir wenigstens ein paar warme Sachen zum Anziehen mitgegeben und ein paar Taschentücher, weil du sie doch immer so schnell schmutzig machst. Vielleicht mußt du jetzt frieren, und am Ende erkältest du dich noch. Ich mache mir schreckliche Sorgen um dich. Ist das auch nicht zu gefährlich, in die Drachenstadt zu fahren? Gib nur schön acht auf dich, daß dir nichts passiert, und sei immer recht brav, mein kleiner Jim. Und wasch dir auch immer schön den Hals und die Ohren, hörst du? Ich weiß ja nicht, was Drachen eigentlich für Leute sind, aber sei auf jeden Fall stets höflich. Und wenn ihr die Prinzessin nach Hause gebracht habt, dann komm schnell zu deiner Frau Waas.
P. S.: Lieber Lukas! Nun hat Jim also erfahren, daß ich nicht seine wirkliche Mutter bin. Vielleicht ist es ja Frau Mahlzahn, an die damals das Paket adressiert war. Ich bin sehr traurig, aber andererseits freue ich mich für meinen kleinen Jim, wenn er jetzt seine richtige Mama findet. Ich hoffe nur, sie ist nicht allzu böse auf mich, weil ich ihn bei mir behalten habe. Bitten Sie doch Frau Mahlzahn, daß der Junge nach Lummerland zu Besuch kommen darf, damit ich ihn nochmal sehen kann. Oder vielleicht hat sie Lust mit herzukommen? Dann würde ich sie auch kennenlernen, das wäre das allerbeste. Und nicht wahr. Sie sorgen doch dafür, daß Jim sich nicht in Gefahr begibt? Er ist so ein leichtsinniger kleiner Bub. Herzliche Grüße!
Frau Waas."
Lukas faltete nachdenklich das Blatt zusammen. Jim hatte Tränen in den Augen. Ach ja, das war Frau Waas, wie sie leibte und lebte, so lieb und gut!
Nun las Lukas auch noch den dritten Brief vor:
„Sehr geschätzter Herr Lokomotivführer! Mein lieber Jim Knopf!
Hiermit schließe ich mich der Bitte Seiner Majestät und unserer allseits verehrten Frau Waas auf das innigste an. Ich komme mir nahezu überflüssig vor, seit Jim mir keine Streiche mehr spielt. Und Sie, Herr Lokomotivführer, sind ein Mann, dessen Rat und Tat niemand in ganz Lummerland entbehren kann. Meine Wasserleitung tropft, und ich vermag sie nicht in Ordnung zu bringen. Kehren Sie doch freundlichst beide umgehend zurück!
Mit vorzüglicher Hochachtung! Ihr sehr geehrter Herr Ärmel!"
Jim mußte wieder lachen und wischte sich die Träne ab, die ihm über die schwarze Backe gelaufen war. Dann fragte er:
„Jetzt könnten wir doch eigentlich morgen früh losfahren?"
Lukas schmunzelte:
„Fragt sich nur noch, womit. Muß unsere gute dicke Emma wiedermal herhalten, oder könnten wir ein Schiff bekommen, Majestät?"
„Ich schlage vor, wir fahren auf meinem Staatsschiff", erwiderte der Kaiser.
„Wir?" fragte Lukas überrascht. „Haben Sie,wir' gesagt?"
„Natürlich", erwiderte der Kaiser, „Sie beide, meine Tochter Li Si und ich selbst. Ich möchte nämlich gerne Frau Waas kennenlernen, die mir eine sehr liebe und achtenswerte Frau zu sein scheint. Außerdem muß ich doch auch König Alfons den Viertel-vor-Zwölften besuchen, da unsere beiden Länder ja vermutlich in absehbarer Zeit diplomatische Beziehungen anknüpfen werden."
Dabei blickte er lächelnd auf Jim.
„Donnerwetter!" rief Lukas lachend, „das wird ja ein tolles Gedränge auf Lummerland geben. Unsere Insel ist nämlich wirklich sehr klein, Majestät."
Dann wandte er sich an Ping Pong und erkundigte sich:
„Können wir morgen früh in See stechen?"
„Wenn ich sogleich meine Befehle erteile", piepste der Oberbonze, „dann ist das Staatsschiff bis morgen früh bereit."
„Famos", antwortete Lukas, „dann erteile doch bitte gleich deine Befehle!"
Ping Pong hüpfte in die Höhe und rannte davon. Für einen so winzigen Oberbonzen war das alles ja eigentlich ein bißchen viel, aber dafür war er nun eine Respektsperson in China und durfte einen goldenen Schlafrock tragen. Würden bringen eben Bürden, wie schon ein altes chinesisches Sprichwort sagt.
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
in dem die Kinder Abschied nehmen und eine schwimmende Insel eingefangen wird
Zum Nachmittagstee wurden alle Kinder geweckt und kamen zum Kaiser und den beiden Freunden auf die Terrasse heraus. Dann aßen alle gemeinsam. Als sie fertig waren, gingen sie hinunter auf den Platz vor dem Palast. Dort standen jetzt in einer langen Reihe viele zierliche chinesische Kutschen mit kleinen weißen Pferdchen davor. Die Wägelchen waren bunt bemalt und hatten seidene Baldachine, zum Schutz gegen die Sonne. Das erste war besonders prächtig, darin nahm der Kaiser mit seiner Tochter Platz. Die Kinder verteilten sich in den anderen Kutschen, immer zwei oder drei in einer. Natürlich durften sie selber lenken. Lukas und Jim wollten lieber mit Emma fahren.