„Aber wir hatten's doch abgemacht!" sagte Jim vorwurfsvoll.
„Ja", gab Lukas zu. „Bin ja auch mächtig froh, daß du dich an unsere Abmachung gehalten hast. Jetzt weiß ich, daß ich mich auf dich verlassen kann. Übrigens, wie gefällt dir unser Schiff?"
„Famos!" sagte Jim. „Ich dacht' immer, Lokomotiven gingen im Wasser unter?"
Lukas schmunzelte.
„Nicht, wenn man vorher das Wasser aus dem Kessel herausläßt, den Kohlentender leer macht und die Türen kalfatert", erklärte er und paffte kleine Wölkchen. „Das ist ein Trick, den nicht jeder kennt."
„Was muß man die Türen?" erkundigte sich Jim, der das Wort noch nie gehört hatte.
„Kalfatern", wiederholte Lukas. „Das bedeutet, man muß alle Ritzen gründlich mit Werg und Teer abdichten, damit kein Tropfen Wasser durchsickert. Das ist sehr wichtig, weil durch das wasserdichte Führerhäuschen, den hohlen Kessel und den leeren Tender Emma nicht untergehen kann. Außerdem haben wir dadurch eine hübsche kleine Kajüte, falls es mal regnen sollte."
„Aber wie kommen wir denn hinein?" wollte Jim wissen. „Wenn doch die Türen so fest zu sein müssen?"
„Wir können durch den Tender hinunterkriechen", sagte Lukas. „Du siehst, wenn man nur weiß, wie's gemacht wird, dann schwimmt sogar eine Lokomotive wie eine Ente."
„Ach!" sagte Jim bewundernd. „Aber sie ist doch ganz aus Eisen?"
„Macht nichts", antwortete Lukas und spuckte vergnügt einen Looping ins Wasser. „Es gibt Schiffe, die auch ganz aus Eisen sind. Ein leerer Kanister zum Beispiel ist auch aus Eisen und geht trotzdem nicht unter, solange kein Wasser 'reinläuft."
„Aha!" sagte Jim, als hätte er begriffen. Er fand, daß Lukas ein sehr kluger Mann war. Mit so einem Freund konnte eigentlich nicht viel schiefgehen.
Er war jetzt sehr froh, daß er sein Versprechen gehalten hatte. „Wenn du nichts dagegen hast", sagte Lukas, „dann fahren wir jetzt ab."
„In Ordnung", antwortete Jim.
Sie warfen das Tau los, mit dem Emma am Ufer festgemacht war. Der Wind bauschte das Segel. Der Mast ächzte leise, und das seltsame Schiff setzte sich in Bewegung.
Kein Laut war zu hören außer dem Summen des Windes und dem Plätschern der kleinen Wellen am Bug der Emma.
Lukas hatte seinen Arm um Jims Schulter gelegt, und beide schauten schweigend zu, wie Lummerland mit dem Haus von Frau Waas und dem Haus von Herrn Ärmel, mit der kleinen Bahnstation und dem Schloß des Königs zwischen den beiden ungleichen Gipfeln immer weiter zurückblieb, still und mondbeschienen.
Über Jims schwarze Backe rollte eine dicke Träne.
„Traurig?" fragte Lukas leise. Auch in seinen Augen blinkte es verdächtig. - Jim zog den Inhalt seiner Nase geräuschvoll hoch, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte tapfer.,,Is' schon vorbei."
„Am besten, wir schauen nicht länger zurück", meinte Lukas und gab Jim einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Sie drehten sich um, so daß sie nun nach vorne blickten.
„So!" sagte Lukas, „jetzt stopf ich mir erst mal eine neue Pfeife, und dann wollen wir uns ein bißchen unterhalten."
Er stopfte sich seine Pfeife, zündete sie an, stieß ein paar Rauchkringel aus, und dann fingen sie an, sich zu unterhalten. Und nach kurzer Zeit waren sie beide wieder ganz vergnügt und lachten. So segelten sie hinaus auf das mondbeglänzte Meer.
FÜNFTES KAPITEL
in dem die Seereise beendet wird und Jim durchsichtige Bäume sieht
Die Reise verlief ohne besondere Zwischenfälle. Zum Glück blieb das Wetter weiterhin freundlich. Eine leichte, anhaltende Brise schwellte Tag und Nacht das Segel und ließ die Emma gut vorwärts kommen.
„Ich möcht' nur wissen", meinte Jim nochmal nachdenklich, „wo wir eigentlich hinfahren."
„Keine Ahnung", erwiderte Lukas dann zuversichtlich. „Wir werden uns einfach überraschen lassen."
Einige Tage lang wurden sie von einem Schwärm fliegender Fische begleitet, die den beiden Freunden viel Vergnügen bereiteten. Fliegende Fische sind nämlich sehr fröhliche Leute. Sie schwirrten um Jims Kopf und spielten Haschen mit ihm. Er erwischte allerdings nie einen, weil sie unglaublich flink waren, aber vor Eifer plumpste er ein paarmal ins Wasser. Zum Glück konnte er gut schwimmen, das hatte er am Strand von Lummerland schon gelernt, als er noch ganz klein war. Wenn Lukas ihn dann herauszog und er tropfnaß auf dem Dach des Führerhäuschens stand, streckten alle fliegenden Fische ihre Köpfe aus dem Wasser und sperrten die Münder weit auf, als ob sie lachten. Hören konnte man natürlich nichts, weil Fische bekanntlich stumm sind.
Wenn die Reisenden hungrig waren, dann fischten sie sich einfach ein paar Meerbirnen oder Seegurken von den hohen Korallenbäumen. Diese Bäume wachsen nämlich oft so hoch, daß sie vom Meeresgrund bis hinauf an die Wasseroberfläche reichen. Die Meeresfrüchte waren nahrhaft und vitaminreich und außerdem so saftig, daß die beiden Freunde niemals Durst zu leiden brauchten. (Das Meerwasser kann man ja nicht trinken, weil es ganz salzig schmeckt.)
Tagsüber erzählten sie sich gegenseitig Geschichten oder sie pfiffen Lieder oder spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Eine Schachtel mit Gesellschaftsspielen hatte Lukas nämlich vorsichtshalber mitgenommen, weil er schon damit gerechnet hatte, daß es eine ziemlich lange Fahrt werden würde.
Nachts, wenn sie schlafen wollten, öffneten sie den Deckel des Tenders, der sonst immer geschlossen blieb, damit kein Wasser hineinspritzte, und schlüpften durch das Kohlen-Nachschub-Loch in das Führerhäuschen hinunter. Von innen zog Lukas den Tenderdeckel wieder sorgfältig zu. Dann wickelten sie sich in warme Decken und machten es sich bequem. Natürlich war es ziemlich eng in der Kajüte, aber auch sehr gemütlich, besonders wenn das Wasser von außen gegen die kalfaterten Türen gluckste und Emma wie eine große Wiege auf und nieder schaukelte.
Eines Morgens - genauer gesagt am dritten Tag der vierten Woche ihrer Reise - wachte Jim sehr früh auf. Ihm war so, als habe er einen deutlichen Ruck gespürt.
„Was is' denn das?" dachte er. „Und warum schaukelt Emma nicht mehr, sondern steht ganz ruhig?"
Da Lukas noch fest schlief, beschloß Jim, selbst nachzusehen. Vorsichtig, um seinen Freund nicht zu wecken, stand er auf, stellte sich auf die Zehen und guckte durch eines der Fenster hinaus.
In der rosigen Morgendämmerung erblickte er eine Landschaft von wundervoller Schönheit und Zartheit. Etwas ähnlich Herrliches hatte er noch nie gesehen. Nicht einmal auf Abbildungen.
„Nein", sagte er sich nach einer Weile, „das is' wahrscheinlich gar nicht Wirklichkeit. Bestimmt träum' ich nur, daß ich hier steh' und das alles seh'."
Und rasch legte er sich wieder hin und machte die Augen zu, um weiterzuträumen. Aber mit geschlossenen Augen sah er gar nichts mehr.
Also konnte es wohl doch kein Traum sein. Er stand noch einmal auf und guckte hinaus, und da war die Landschaft wieder.
Wunderbare Bäume und Blumen in den seltsamsten Farben und Formen gab es da draußen, aber sonderbarerweise schienen sie alle durchsichtig zu sein, durchsichtig wie buntes Glas. Vor dem Fenster, durch das Jim hinausblickte, stand ein sehr dicker, sehr alter Baum, so mächtig, daß drei Männer seinen Stamm nicht hätten umspannen können. Aber man konnte alles, was dahinter lag, durch ihn hindurchsehen, wie durch ein Aquarium, Der Baum war von zartvioletter Farbe, und deshalb sah alles dahinter zartviolett aus.
Duftige Nebelschleier schwebten über den Wiesen, und da und dort schlängelten sich Flüsse, über die sich zierliche, schmale Brücken aus Porzellan schwangen. Manche dieser Brücken hatten seltsame Dächer, daran hingen Tausende von kleinen Glocken aus Silber, die im Morgenlicht glitzerten. An vielen Bäumen und Blumen hingen ebenfalls silberne Glöckchen, und wenn ein leichter Wind über das Land strich, dann erscholl bald hier, bald dort ein ganz überirdisch fernes, vielstimmiges Klingen.