Große Schmetterlinge mit schimmernden Flügeln schwebten zwischen den Blüten hin und her, und winzige Vögelchen mit langen gebogenen Schnäbeln saugten Honig und Tautropfen aus den Kelchen. Diese Vögel waren nicht größer als Hummeln. (Man nennt sie Kolibris. Sie sind die kleinsten Vögel, die es überhaupt auf der Welt gibt, und sie sehen aus, als wären sie aus purem Gold und Edelsteinen.)
Ganz in der Ferne, am Horizont, erhob ein gewaltiges Gebirge seine Gipfel hoch in die Wolken. Es war rot und weiß gemustert. Aus dieser Entfernung sah es aus wie eine wunderschöne Zierleiste aus dem Schulheft eines Riesenkindes.
Jim schaute und schaute, und vor lauter Staunen vergaß er, den Mund zuzumachen.
„Na", hörte er plötzlich Lukas sagen, „du machst ja nicht gerade ein sehr geistreiches Gesicht, alter Junge. Übrigens, guten Morgen, Jim!"
Und er gähnte herzhaft.
„Oh, Lukas!" stammelte Jim, ohne den Blick von der Landschaft zu wenden. „Da draußen… wie das alles durchsichtig is' und… und… und…"
„Wieso durchsichtig?" fragte Lukas und gähnte noch einmal. „Wasser ist, soviel ich weiß, immer durchsichtig. Mir wird das viele Wasser allmählich ein bißchen langweilig. Möchte wissen, wann wir endlich irgendwo ankommen."
„Wieso denn Wasser?" Jim schrie beinahe vor Aufregung. „Ich mein' doch die Bäume!"
„Bäume?" fragte Lukas und streckte sich, daß es knackte. „Du träumst wohl noch, Jim. Auf dem Meer wachsen keine Bäume, und schon gar keine, die durchsichtig sind."
„Doch nicht auf dem Meer!" rief Jim. Er wurde langsam ungeduldig. „Da draußen is' Land und Bäume und Blumen und Brücken und Berge…"
Er faßte Lukas an der Hand und versuchte aufgeregt, ihn hochzuziehen.
„Na, na, na!" brummte Lukas, während er aufstand. Und dann schaute er durch das Fenster hinaus und sah die märchenhafte Landschaft, und da sagte auch er erst einmal eine ganze Weile gar nichts mehr. Schließlich stieß er hervor:
„Donnerwetter!"
Und dann sagte er wieder eine ganze Weile nichts. Der Anblick überwältigte ihn.
„Was für ein Land kann das nur sein?" unterbrach Jim endlich das Schweigen.
„Diese merkwürdigen Baume…?" murmelte Lukas gedankenvoll, „diese Silberglöckchen überall, diese geschwungenen, schmalen Brücken aus Porzellan…?" Und plötzlich rief er: „Ich will nicht Lukas der Lokomotivführer heißen, wenn das nicht das Land China ist! Komm, Jim, hilf mir! Wir müssen Emma ganz auf den Strand schieben."
Sie kletterten hinaus und schoben Emma aufs Trockene. Und als das geschehen war, setzten sie sich erst mal hin und frühstückten in aller Ruhe. Sie aßen die letzten Seegurken aus ihrem Vorrat auf. Dann zündete Lukas sich seine Pfeife an
„Und wohin fahren wir jetzt?" wollte Jim wissen. „Das beste wird sein", überlegte Lukas, „wir fahren erst mal nach Ping. So heißt, soviel ich weiß, die Hauptstadt von China. Wollen mal sehen, ob wir nicht vielleicht seine Majestät den Kaiser sprechen können."
„Was willst du denn von ihm?" erkundigte sich Jim bewundernd.
„Ich will ihn fragen, ob er nicht eine Lokomotive und zwei Lokomotivführer brauchen kann. Vielleicht hat er so was gerade nötig. Dann könnten wir hier bleiben, verstehst du? Das Land scheint ja nicht übel zu sein."
Also gingen sie an die Arbeit und machten Emma wieder landtüchtig. Zueist montierten sie den Mast und das Segel ab. Dann öffneten sie die kalfaterten Türen wieder, indem sie den Teer und das Werg sorgfältig aus allen Ritzen entfernten, und zuletzt füllten sie Emmas Kessel wieder mit Wasser und den Tender mit trockenem Treibholz, das massenhaft am Strand herumlag.
Als das geschehen war, machten sie Feuer unter dem Kessel. Dabei zeigte sich übrigens, daß das durchsichtige Holz fast ebenso ausgezeichnet brannte wie Kohle. Als das Wasser im Kessel ordentlich kochte, dampften sie los. Die gute alte Emma fühlte sich jetzt wieder viel wohler als auf dem Meer, denn das Wasser war natürlich doch nicht so ganz ihr Element.
Nach kurzer Zeit hatten sie eine breite Straße erreicht, auf der sie bequem und schnell dahinrollen konnten. Selbstverständlich hüteten sie sich, über eine der kleinen Brücken aus Porzellan zu fahren, weil Porzellan, wie jeder weiß, sehr zerbrechlich ist und es nicht besonders gut verträgt, wenn man mit einer Lokomotive drüber fährt.
Und es war ihr Glück, daß sie nicht nach rechts oder links abbogen, denn die Straße führte direkt nach Ping, der Hauptstadt von China.
Erst fuhren sie nur immer auf den Horizont zu, über dem sich das rot und weiß gestreifte Gebirge erhob. Aber ungefähr nach fünfeinhalb Stunden Fahrt erblickte Jim, der auf das Dach der Lokomotive geklettert war, um Ausschau zu halten, in der Ferne etwas, was aussah wie Tausende und aber Tausende von großen Zelten. Alle diese Zelte glänzten in der Sonne wie Metall.
Jim rief zu Lukas hinunter, was er gesehen hatte, und Lukas antwertete: „Das sind die goldenen Dächer von Ping. Wir sind also auf dem richtigen Weg."
Und nach einer weiteren halben Stunde hatten sie die Stadt erreicht.
SECHSTES KAPITEL
in welchem ein dicker gelber Kopf Schwierigkeiten macht
In Ping gab es ungeheuer viele Menschen, die alle Chinesen waren. Jim, der noch niemals so viele Leute auf einmal gesehen hatte, wurde es ganz unheimlich zumut. Alle hatten Schlitzaugen und Zöpfe und trugen große runde Hüte auf den Köpfen.
Jeder Chinese hielt einen anderen Chinesen an der Hand, der etwas kleiner war. Und der hielt wieder einen an der Hand, der noch kleiner war. Und so ging es fort bis hinab zum Kleinsten, der nur etwa die Größe einer Erbse hatte. Ob der nun auch einen noch kleineren Chinesen an der Hand hielt, konnte Jim nicht sehen, denn dazu hätte er ein Vergrößerungsglas gebraucht.
Das waren die Chinesen mit ihren Kindern und Kindeskindern. (Alle Chinesen haben sehr viele Kinder und Kindeskinder.) Und alle wuselten und wimmelten auf der Straße durcheinander und schnatterten und gestikulierten, daß es Jim ganz wirbelig im Kopf wurde.
Die Stadt bestand aus vielen tausend Häusern, und jedes Haus hatte viele, viele Stockwerke, und jedes Stockwerk hatte ein eigenes, vorspringendes Dach, das wie ein Regenschirm aussah und aus Gold war.
Aus jedem Fenster hingen Fähnchen und Lampions, und in den Seitengäßchen waren Hunderte von Wäscheleinen von Haus zu Haus gespannt. An denen trockneten die Leute ihre viele Wäsche. Denn die Chinesen sind ein sehr sauberes Volk. Sie ziehen niemals etwas Schmutziges an, und selbst der kleinste Chinese, der nur so groß ist wie eine Erbse, wäscht seine Wäsche jeden Tag und hängt sie an eine Leine, nicht dicker als ein Zwirnsfaden.
Emma mußte sich sehr vorsichtig einen Weg durch die Menschenmenge suchen, damit sie niemand totfuhr. Sie war schrecklich aufgeregt, das konnte man an ihrem Keuchen hören. Ununterbrochen tutete und pfiff sie, um die Kinder und Kindeskinder aus dem Weg zu scheuchen. Sie war schon völlig außer Atem.