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Sie verabschiedeten sich, und bevor sie die Gasse hinunterliefen, gab Rotkohl ihnen noch einen weisen Ratschlag mit auf den Weg: »Wenn ihr nächstes Mal mit Drachen hier durchkommt, dann laßt sie lieber gleich zu Hause.«

V.

WIEDER ZU HAUSE

Auf dem Weg, den ihnen Rotkohl Simpson beschrieben hatte, erreichten sie bald die Union Street, und ohne weitere Zwischenfälle kehrten sie schließlich auf den Berg zurück. Von oben blickten sie in den Schlund hinunter, aus dem unaufhörlich das dumpfe Surren überfüllter Wohnviertel aufstieg. »Nie geh' ich da wieder hinein - nie im Leben!« sagte Fred mit wildem Zorn in der Stimme. »Ich möchte wissen, wo der Heizer geblieben ist!«

»Wir können von Glück sagen, daß wir mit heiler Haut davongekommen sind«, sagte Joe bedächtig, um die beiden anderen aufzumuntern.

»Denen haben wir's aber ganz schön gezeigt!« meint Charlie. »Du am meisten.«

»Ja«, antwortete Joe, »und das dicke Ende kommt nach -zu Hause nämlich. Nacht, zusammen!« Wie vorauszusehen, war der Seiteneingang bereits verschlossen. Joe ging um das Haus herum und stieg wie ein Einbrecher durch eins der Eßzimmerfenster. Als er mit leisen Schritten quer durch die große Diele auf die Treppe zuschlich, kam sein Vater gerade aus der Bibliothek. Die Überraschung war gegenseitig. Beide blieben entsetzt stehen. Joe wollte in ein blödsinniges Lachen ausbrechen, denn er glaubte genau zu wissen, wie er aussah. In Wirklichkeit sah er jedoch noch wesentlich schlimmer aus, als er es sich vorstellte.

Mr. Bronson erblickte vor sich einen Jungen, dessen Mütze und Jacke völlig verdreckt waren. Das ganze Gesicht war von den Spuren des Kampfes gezeichnet — die Nase böse geschwollen, eine Augenbraue geplatzt, die Lippen aufgeschlagen, die Backen zerkratzt. Immer noch bluteten die Knöchel, und das Hemd war von oben bis unten zerrissen. »Was soll das bedeuten, junger Mann?« brachte Mr. Bronson schließlich heraus.

Joe stand sprachlos da. Wie konnte er in einem einzigen Satz all das berichten, was sich an diesem Abend ereignet hatte? Denn alles gehörte mit dazu, wenn er seinen unglückseligen Aufzug erklären wollte.

»Hast du die Sprache verloren?« fragte Herr Bronson ungeduldig.

»Ich habe - ich bin . . .« »Nun?« ermunterte ihn sein Vater.

»Ich bin - nun ja, ich bin unten im Schlund gewesen!« stieß Joe mit Anstrengung hervor.

»So siehst du, ehrlich gesagt, auch aus -sehr sogar!« Mr. Bronsons Stimme klang streng. Niemals hatte es ihn jedoch größere Mühe gekostet, ein Lächeln zu unterdrücken. »Ich vermute«, fuhr er fort, »daß du mit „Schlund“ nicht den Höllenschlund, den Aufenthalt der Sünder, sondern wahrscheinlich eine bestimmte Gegend von San Franzisko meinst. Habe ich recht?«

Joe ruderte mit dem Arm und zeigte in die Richtung, in der die Union Street liegen mußte. »Da unten«, sagte er. »Und wer hat den Namen erfunden?« »Ich«, erwiderte Joe, als müßte er ein ganz besonders schweres Verbrechen gestehen.

»Sehr zutreffend, der Name, gewiß. Und er zeugt von Phantasie. Besser geht es überhaupt nicht. Bestimmt bist du gut im Englischen - in der Schule!« Dies verbesserte Joes Laune nicht gerade. Englisch war das einzige Fach, in dem er sich seiner Leistungen nicht zu schämen brauchte.

Während er so dastand, stumm vor Elend und Schmach, betrachtete Mr. Bronson ihn mit den Augen seiner eigenen Jugend; betrachtete ihn mit einem Verständnis, das Joe für unmöglich gehalten hätte.

»Aber ich will dir jetzt keine langen Vorträge halten. Du brauchst ein Bad, Pflaster und kalte Umschläge«, sagte Mr. Bronson. »Und dann ins Bett mit dir. Du hast eine Menge Schlaf nötig. Morgen früh spürst du garantiert jeden Knochen.«

Die Uhr schlug eins, als Joe sich die Bettdecke über die Ohren zog. Als nächstes nahm er, höchst widerwillig, ein leises hartnäckiges Klopfen wahr, das mehrere Jahrhunderte anzuhalten schien, bis er es schließlich nicht mehr aushielt. Er öffnete die Augen und setzte sich auf. Der Tag strömte zum Fenster herein - ein lichter, sonniger Tag. Joe streckte seine Arme und gähnte. Aber ein reißender Schmerz schoß durch alle seine Muskeln, und er nahm seine Arme schneller wieder herunter, als er sie hochgereckt hatte. Er betrachtete sie mit verwirrtem Staunen, bis die Ereignisse des vergangenen Abends plötzlich wieder über ihn herfielen. Er stöhnte.

Das Klopfen hielt noch immer an. »Ja, ich höre doch!« rief er. »Wie spät ist es?«

»Acht Uhr«, klang Bessies Stimme durch die Tür. »Du mußt dich beeilen, wenn du noch rechtzeitig in die Schule kommen willst!«

»Verdammt!« Mit einem Satz war er aus dem Bett. Er stöhnte vor Schmerzen, die ihm seine steifen Muskeln verursachten, und ließ sich langsam und vorsichtig auf einen Stuhl sinken.

»Warum hast du mich nicht früher gerufen?« murrte er. »Weil Vater gesagt hat, ich soll dich schlafen lassen!« Wieder stöhnte Joe, diesmal in einer anderen Tonart. Dann fiel sein Blick auf sein Geschichtsbuch, und er stöhnte zum dritten Mal - in einer dritten Tonart. »Gut!« rief er dann. »Geh nur. Ich bin gleich unten.« Tatsächlich erschien er schon sehr bald. Aber wenn Bessie ihn die Treppe hätte hinunterschleichen sehen, würde sie sich sehr gewundert haben über die außerordentliche Vorsicht, mit der er sich bewegte, und über das schmerzhafte Zucken, das hin und wieder sein Gesicht verzerrte. Als sie ihn jetzt im Eßzimmer vor sich sah, stieß sie einen entsetzten Schrei aus und lief ihm entgegen. »Was hast du denn, Joe?« fragte sie zitternd. »Was ist passiert?« »Nichts«, grunzte er und streute Zucker auf seine Haferflocken.

»Aber es muß doch etwas . . .« begann sie. »Laß mich bitte in Ruhe!« unterbrach er sie. »Es ist schon spät, und ich möchte frühstücken!«

In diesem Augenblick fing Bessie einen Blick ihrer Mutter auf, und obwohl sie auch jetzt noch nichts begriff, ließ sie sofort von ihren Fragen ab.

Joe war seiner Mutter sehr dankbar, und er war froh, daß sie selber keine Bemerkungen über sein Aussehen machte. Vater hatte ihr bestimmt alles erzählt. Joe konnte sich darauf verlassen, daß sie ihn nicht quälte. Das war noch nie ihre Art gewesen.

Mit solchen Betrachtungen beschäftigt, stopfte er eilig sein einsames Frühstück in sich hinein. Dabei hatte er das unklare und auch etwas unangenehme Gefühl, daß seine Mutter ängstlich um ihn bemüht war. Zärtlich war sie immer, und doch bemerkte er, daß sie ihn heute mit noch größerer Zärtlichkeit küßte, als er sich, seine Bücher an einem Lederriemen hin und her schwingend, auf den Weg machte. Und als er um die Ecke bog, sah er, daß sie ihm noch immer aus dem Fenster nachblickte. Sehr viel mehr jedoch bekümmerten ihn seine steifen und schmerzenden Knochen. Jeder Schritt war Anstrengung und Qual. Sosehr das von dem betonierten Gehweg zurückgeworfene Sonnenlicht seinen geschundenen Augen weh tat, und sosehr ihn seine zahlreichen Wunden schmerzten - noch stärker litt er unter einem fürchterlichen Muskelkater. Nie hatte er geglaubt, daß sein Körper so steif werden könne. Jeder einzelne Muskel protestierte, wenn er sich bewegen sollte. Die Finger waren übel angeschwollen und taten höllisch weh, wenn er sie zur Faust ballte oder wieder zu strecken versuchte. Die Arme waren wund vom Handgelenk bis zum Ellenbogen. Das rührte wohl von den vielen Schlägen her, die er von Gesicht und Körper abgewehrt hatte. -Wahrscheinlich stand Rotkohl Simpson ähnliche Qualen aus, dachte er, und der Gedanke ihres gemeinsamen Elends ließ in ihm ein gewisses Gefühl der Verbundenheit mit dem gefürchteten Schläger aufkommen. Als er den Schulhof betrat, bemerkte er sofort, daß sich aller Augen auf ihn richteten. Die Jungen drängten sich voller Hochachtung um ihn, und selbst seine Klassenkameraden und sogar seine engeren Freunde betrachteten ihn mit einem Respekt, der ihm neu war.

VI.

DIE PRÜFUNG

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