Dieser letzte Name entschied; Käthchen nahm das Licht und ging mit pochendem Herzen voran, Hedwig folgte ihr, so nahe als möglich an die mutigere Schwester gedrängt, und als jene die verhängnisvolle Kammertüre aufschloß, hielt sie sich fest an ihrem Kleide. Die Öffnung war gerade über dem Ofen des Wohnzimmers, das einen Stock tiefer lag, angebracht, und Käthchen konnte, als sie die Klappe aufzog, selbst wenn sie sich auf die Kniee legte und den Kopf tief herabbeugte, doch nicht mehr als vier oder fünf der versammelten Männer sehen; auch Hedwig beugte sich jetzt herab und versuchte es, noch tiefer zu blicken als ihre Schwester, aber verdrießlich stand sie wieder auf und sagte: »Nichts als den breiten Rücken des Prälaten, einige Perücken und die Uniform des Obristen kann ich sehen; weißt du denn gewiß, daß Blankenberg zugegen ist?«
»Sicher!« erwiderte Käthchen, schalkhaft lächelnd. »Doch laß uns horchen was sie sprechen, vielleicht kennst du deinen Liebhaber an der Stimme.«
Sie setzten sich auf den Fußboden neben der Öffnung und lauschten; die angenehme Wärme, die von dem Ofen heraufdrang und ihre Neugierde ließen sie eine Zeitlang die empfindliche Kälte der Märznacht vergessen; endlich richtete sich Hedwig unmutig auf. »Meinst du, wir werden klug werden aus diesem Geplauder, wovon man nur die Hälfte versteht? Sie schwatzen wieder, wie immer, vom Wohl des Landes, vom Herzog, von Süß, von allem; was geht das uns an! Komm! es ist gar schaurig hier und kalt. Mädchen, so steh doch auf!«
Aber Käthchen winkte ihr zu schweigen; man hörte jetzt eben den Obrist Röder mit bestimmter und vernehmlicher Stimme etwas vorlesen, die tiefe Stille umher unterbrach nur zuweilen ein schnell verrauschendes Murmeln des Unwillens. Jetzt sprach der alte Lanbek; Käthchens fröhliche Züge gingen nach und nach in Staunen und Angst über, endlich, als die Männer unten wieder laut, aber beifällig zusammen sprachen und die Gläser anstießen, flog eine hohe Röte über das schöne Gesicht des Mädchens, ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig die Klappe schloß, die Lampe ergriff und mit ihrer Schwester den Rückweg einschlug.
»Hast du was verstanden?« fragte Hedwig; »du schienst auf einmal so aufmerksam; was haben sie denn Besonderes gesprochen?«
»Ich weiß nicht alles, ich kann nicht alles sagen«, erwiderte Käthchen nachdenkend; »mir ist's, als hätte mir alles geträumt. Höre - aber schweig! es könnte uns alle unglücklich machen. Das sind gefährliche Menschen in Vaters Zimmer unten. Mir graut, wenn ich daran denke, was daraus entstehen kann.«
»So sprich doch, einfältiges Kind! ich bin zwei Jahre älter als du, und du sollst keine Geheimnisse vor mir haben.«
»Denke dir«, fuhr Käthchen mit leiser Stimme fort, »der Süß will uns katholisch machen und die Landschaft umstürzen; da verlöre der Vater und alle andern verlören ihre Stellen!«
»Katholisch!« rief Hedwig mit Entsetzen, »da müßten wir ja Nonnen werden, wenn wir ledig blieben? nein, das ist abscheulich!«
»Ach, warum nicht gar«, erwiderte Käthchen, lächelnd über den Jammer ihrer Schwester, »da müßte es viele Nonnen geben, wenn alle, die keine Männer bekommen, ins Kloster gingen; aber sei ruhig, es kommt nicht so weit. In drei Tagen, sagte Röder, werde der Herzog verreisen, und während er in Philippsburg ist, wollen die Männer da unten den Juden und alle seine Gehülfen im Namen der Landschaft gefangennehmen, und dann dem Herzog beweisen, wie schlecht seine Minister waren.«
»Ach Gott, ach Gott! das geht nicht gut«, sagte Hedwig weinend; »alles werden sie verlieren, denn der Herzog traut allen eher als denen von der Landschaft; ich weiß ja, was mir einmal die Obristjägermeisterin über den Vater sagte. Du wirst sehen, es geht unglücklich!«
»Und wenn auch«, antwortete Käthchen, »so sind wir die Töchter eines Mannes, der, was er tut, zum Besten seines Vaterlandes tut. Das kann uns trösten.« Das mutige Mädchen holte aus dem Schranke eine mit vielen schönen Kupfern geschmückte Bibel. Sie gab der weinenden Schwester das Neue Testament, um sich an den Kupfern und Reimsprüchen zu zerstreuen. Sie selbst schlug sich das Alte Testament auf. Sie verbarg ihre eigene Besorgnis um ihren Vater unter einem Liedchen, das sie leise vor sich hinsang, während ihre schönen Finger emsig die vergelbten Blätter von einem Bilde zum andern durcheilten.
12
Es gibt im Leben einzelner Staaten Momente, wo der aufmerksame Beschauer noch nach einem Jahrhundert sagen wird, hier, gerade hier mußte eine Krise eintreten; ein oder zwei Jahre nachher wären dieselben Umstände nicht mehr von derselben Wirkung gewesen. Es ist dann dem endlichen Geist nicht mehr möglich, eine solche Fügung der Dinge sich hinwegzudenken, und aus der unendlichen Reihe von möglichen Folgen diejenigen aneinanderzuknüpfen, die ein ebenso notwendig verkettetes Ganze bilden, als ein verflossenes Jahrhundert mit allen seinen historischen Wahrheiten. Hier zeigte sich der Finger Gottes, pflegt man zu sagen, wenn man auf solche wichtige Augenblicke im Leben eines Staates stößt. Es hat aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die, mochte ihr eigener Genius, mochte das Studium der Geschichte sie leiten, solche Momente geahnet, berechnet haben, und sie wirkten dann am überraschendsten, wenn sie sich nicht begnügten, solche Krisen vorhergesehen zu haben, sondern wenn sie Mut genug besaßen, zu rechter Zeit selbst einzuschreiten, Kraft genug, um eine Rolle durchzuführen. Die Geschichte hat längst über die kurze Regierung der Minister Karl Alexanders entschieden. Sie flucht keinem Sterblichen, sonst müßte sie die Tränen und Seufzer Württembergs in schwere Worte gegen die Urheber seines Unglücks im Jahre 1737 verwandeln; aber sie gedenkt mit Liebe einiger Männer, die sich nicht von dem Strome der allgemeinen Verderbnis hinreißen ließen, die ahneten, es müsse anders kommen, die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Änderung der Dinge herbeizuführen, und die auch dann mit Ruhe und Gelassenheit die Sache ihres Landes führten, als ein Höherer es übernommen hatte, einen unerwartet schnellen Wechsel der Dinge herbeizuführen, indem er zwei feurige Augen schloß und ein tapferes Herz stillestehen hieß.
Wer sollte es diesem heiteren Stuttgart und seinen friedlichen Straßen ansehen, daß es einst der Schauplatz so drückender Besorgnisse war? Wie beruhigt über den Gang der Dinge sind die Enkel derer, die in jenem verhängnisvollen März jede Stunde für das Schicksal ihrer Familien, für die alten Rechte ihres Landes, selbst für ihren Glauben zittern mußten.
Wer den übermütigen Süß in seiner Karosse, mit sechs Pferden bespannt, durch die »reiche Vorstadt« fahren sah, wie er stolz lächelnd auf die bleichen, feindlichen Gesichter herabblickte, die ihm überall begegneten; wer den schrecklichen Hallwachs, seinen innigen Freund und Ratgeber, neben ihm sah, und bedachte, wie viele verderbliche Pläne dieser Mann ersonnen, wie viele unerhörte Monopole er eingeführt habe und wie er immer neue zu erfinden trachte; wer das unbegrenzte Vertrauen kannte, das der Herzog in diese Menschen setzte, der mußte wohl an der Möglichkeit der Rettung verzweifeln.
Dazu kamen noch die sonderbaren und widersprechenden Gerüchte, die im Umlauf waren. Die einen sagten, der Herzog sei nach Philippsburg und Kehl gereist, habe aber das Regiment nicht an den Geheimen Rat, sondern das Siegel dem Juden Süß gegeben; andere widersprachen und behaupteten, man habe den Herzog an einem Fenster des Ludwigsburger Schlosses gesehen, auch seien seine Pferde noch dort und er sei nicht abgereist. In einem Dorf an der österreichischen Grenze im Oberland sollen die Katholiken plötzlich über die protestantischen Einwohner hergefallen sein, und als letztere den Kampfplatz behaupteten, sei eine Kompanie Kreistruppen über die Grenze herein ins Dorf gerückt. Am sonderbarsten klang das Gerücht, das sich überdies noch bestätigte, der Oberfinanzrat Hallwachs habe ein kostbares Meßgewand beim Hofsticker bestellt, und ihm befohlen, es bis zum 18. März fertigzumachen, und wenn er mit fünfzig Gesellen arbeiten müßte; bring er es nicht fertig, so werde er eingesetzt. Ein lutherischer Geistlicher, den man mit Namen nannte, soll den Kindern in der Schule Kreuzchen aus Holz geschnitzt geschenkt haben, mit den Worten: »Nur wenn ihr diese in Händen haltet, könnet ihr recht beten.« Endlich erzählte man sich als etwas Verbürgtes, der Jude habe zum Herzog über der Tafel gesagt: »Ihre Stände, Durchlaucht, sind eigentliche Widerstände; aber sie stehen schon so lange, daß sie müde und matt sind.« Karl Alexander habe ihm lächelnd zur Antwort gegeben: »C'est vrai; allons donc leur donner des chaises, et une fois assis, ils ne se leveront plus.« Auch jene Männer, die entschlossen waren, dem drohenden Verderben zuvorzukommen, hörten diese Gerüchte. Aber sie waren dabei kalt und ruhig; wußten sie ja doch, Württemberg stehe eine solche Veränderung bevor, daß es entweder erleichtert oder so tief ins Unglück gestürzt werden würde, daß der Jammer des einzelnen davor verstummen müßte. Man erzählt sich, sie haben alles, was dazu gehört, einem mächtigen und bösartigen Feind mit Hülfe des Landvolks zu begegnen, vorbereitet gehabt, und wenn ihr Unternehmen gelingen sollte, so verdankten sie es nur den wenigen hellstrahlenden Namen einiger Männer aus der Landschaft; denn an diese war man in Württemberg gewöhnt das Interesse des Landes zu ketten.