Es war spät abends den 11. März, als der Landschaftskonsulent Lanbek mit seinem Sohne und dem Kapitän Reelzingen in seiner Wohnstube beim Wein saß. Die beiden Lanbek waren ernst und düster, der Kapitän aber konnte auch jetzt seinen fröhlichen Lebensmut nicht verbergen, denn er teilte seine Aufmerksamkeit und sein Gespräch zwischen der Fensternische, wo die beiden Schwestern Gustavs saßen, und zwischen den beiden Männern an seiner Seite. Hedwig sah bleich und still vor sich hin auf ihre Nadeln, aber auf Käthchens Gesichtchen lag eine höhere Röte als gewöhnlich, und alle Augenblicke zeigte sie die weißen Zähne und die schönen Grübchen in ihren Wangen, denn der Kapitän wußte wieder wunderschöne »Späße und Geschichten«.
»Wie ist Euer Pferd, Kapitän?« fragte der alte Lanbek.
»Mein Fuchs ist ein besserer Infanterist als ich selbst«, erwiderte er; »wenn ich die sechs ersten Stunden Trab und bergauf Schritt reite, so kann ich die nächsten sechs bequem Galopp reiten. Er hat nur einen Fehler, den, daß er noch nicht bezahlt ist, und macht mir durch diese Untugend oft großen Jammer.«
»Ihr könnt«, fuhr der Alte fort, »wenn ihr von der Galgensteige an scharf Trab reitet, zwischen eilf und zwölf Ludwigsburg passieren; um vier Uhr müßt ihr in Heilbronn sein, und dort laßt ihr die Pferde ruhen; zwischen acht und zehn Uhr seid ihr morgen in Öhringen.«
»Aber, Vater«, fiel Gustav ein, »wäre es nicht ratsamer, gegen Heidelberg zu reiten? ich wollte darauf wetten, wir sind gegen Öhringen hin nicht mehr sicher. Bedenken Sie, daß der Deutschorden dort tief herein sich erstreckt, daß sie in Mergentheim gewiß von dem Bischof in Würzburg unterrichtet sind, daß -«
»Daß«, fuhr der Vater fort, »ihr auf der Straße nach Heidelberg vielmehr auffallet, und daß ihr, wenn ihr etwa die Gegend nicht mehr rein fändet, eine letzte Zuflucht bei meinem alten Herrn und Gönner, dem Herzog in Neustadt, habt, der euch gewiß in den ersten Tagen nicht herausgibt. Ist dann Karl Alexander zufrieden mit dem, was wir hier getan, so könnet ihr immer zurückkehren, wo nicht, so gehet ihr, wie schon gesagt, weiter nach Frankfurt.«
»Gott! daß ich euch in einer solchen Krisis zurücklassen soll!« rief Gustav mit Tränen; »daß ich vielleicht an eurem Unglück schuld bin; daß alles schlecht gehen kann, wenn Süß meine Flucht erfährt und sich an Ihnen, Vater, rächt! Nein, ich kann, ich darf nicht gehen!«
»Nein, Vater«, fiel Hedwig ein, indem sie noch bleicher als zuvor herbeieilte und ihres Vaters Hand ergriff, »er darf uns nicht verlassen; oh, ihr habt schreckliche Dinge vor, ich weiß es wohl, ihr wollt eine Verschwörung gegen die mächtigen Menschen machen. Lassen Sie ab davon, Vater, Süß und die andern werden Ihnen verzeihen; ach, mich tötet die Angst!«
»Geh, Mädchen«, sprach Käthchen, die auch herangetreten war; »was Männer tun und was unser Vater tut, geht uns nicht an. Aber warum soll denn gerade jetzt Gustav so schnell hinweg? Er könnte uns allen so nützlich sein.«
»Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag«, sagte der Alte streng, »darum soll er fort. Weil ich ein Briefchen seiner Charmanten aufgefangen und mit Protest an den Juden geschickt habe, und weil dieser jetzt wütet und euren Bruder mit Gewalt zum Schwager haben oder auf Neuffen setzen will, darum soll und muß er ihm jetzt aus dem Wege gehen. Doch, ich wollte dir in dieser Stunde nicht wehe tun, Gustav; wir scheiden als Freunde, und alles andere soll vergessen sein; wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen!«
Indem der Alte die letzten Worte sprach und seinem Sohn die Hand reichte, wurde schnell und heftig an der Türe gepocht, und ehe noch jemand antwortete, trat plötzlich eine Gestalt in einen Mantel gehüllt ein. »Was soll dies?« fuhr der alte Lanbek auf, »wer drängt sich so bei Nacht in mein Haus, wer sind Sie?«
»Blankenberg!« rief Hedwig, als jener den Mantel abwarf, und trat schnell und errötend einige Schritte vor.
»Verzeihung, Herr Konsulent«, sprach der junge Mann eilend, »die Not muß mich entschuldigen. Gustav, du mußt im Augenblick fort; der Lieutenant Pinassa schrieb mir soeben, daß er dich auf Befehl des General Römchingen heute nacht zwischen eilf und zwölf Uhr aufheben müsse. Der ehrliche Junge möchte dich nicht gern im Nest treffen.«
»Dank, Dank«, erwiderte der Alte, indem er Blankenberg die Hand drückte. »Trinket aus, Kinder, und macht den Abschied schnell; hier, mein lieber Reelzingen«, fuhr er fort, und drückte dem überraschten Kapitän einen großen Beutel in die Hand; »man kann nicht wissen, ob sich euer Weg nicht teilt. Sie sind so edelmütig, meinen Sohn zu begleiten.«
»Und mit Geld wollen Sie dies lohnen?« unterbrach ihn der Kapitän unmutig; »Parole d'honneur, Herr! ich begleite meinen Bruder, weil wir alte Amicisten sind, und nicht wegen Ihrer Spießen. Da soll mich doch -«
»Reelzingen«, sagte Käthchen mit ihrer süßen Stimme, »Ihr versteht doch gar keinen Scherz; es sind lauter Kupfermünzen, und ich habe dem Vater den Beutel gegeben, Euch in April zu schicken.«
»Ich verstehe«, flüsterte der Kapitän, indem er errötend dem schönen Mädchen die Hand küßte. »Ich will Euch dafür etwas Schönes von Frankfurt mitbringen.«
»Bringet mir«, antwortete sie, indem sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, »nur unsern Gustav wohlbehalten zurück, und«, sie setzte durch Tränen lächelnd hinzu, »machet mir keine tollen Streiche, die Euch verraten könnten.«
»Die Pferde sind vor dem Seetor«, sprach der Alte zu Reelzingen und seinem Sohn; »ihr dürft nicht das Tor selbst passieren, denn die erste Runde ist schon vorüber. Begleiten Sie meinen Sohn, Herr von Blankenberg, durch die Gärten und bringen Sie mir Nachricht, wie sie fortgekommen sind.«
Der junge Lanbek umarmte Vater und Geschwister, die Schwestern folgten ihm und seinen Freunden weinend bis unter die Gartentüre, und als nachher Hedwig ihre jüngere Schwester bitter tadelte, weil sie erlaubt habe, daß der Kapitän sie auf den Mund küsse, antwortete jene: »Du hast gefehlt, nicht ich, daß du es unterlassen hast; solche Höflichkeit waren wir einem Manne schuldig, der für unsern Bruder so viel tut.«