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»Lea«, flüsterte der junge Mann, um diese Gedanken zu zerstreuen, »erinnerst du dich, was du versprachst, wenn wir uns auf dem Karneval träfen? wolltest du mir nicht einmal eine einsame Stunde schenken, wo wir recht viel plaudern könnten?«

»Ich will«, sagte sie nach einigem Zögern; »Sara, meine Amme, steht am Ausgang und wird mich begleiten. Doch wo?«

»Dafür ist gesorgt«, erwiderte er; »folge mir, verliere mich nicht aus dem Auge; am Eingang rechts.«

Der erfinderische Sinn des jüdischen Ministers hatte, als er das Karneval in Stuttgart arrangierte und diese Säle schnell aus Holz aufrichten ließ, dafür gesorgt, daß wie in großen Häusern und Schlössern an diese Säle auch kleinere Zimmer stoßen möchten, wo kleine Zirkel ein Abendessen verzehren konnten, ohne gerade im allgemeinen Speisesaal ihr Inkognito abzulegen. Der Aktuarius hatte durch eine dritte Hand und hinlängliche Bezahlung sich den Schlüssel zu einem dieser Zimmer zu verschaffen gewußt, eine kleine Kollation stand dort bereit, und Lea freute sich über diese Artigkeit des jungen Christen, der sein möglichstes getan hatte, den Sinn einer in der Küche erfahrnen Dame zu befriedigen, obgleich das Zimmerchen, das nur einen Tisch und wenige Stühle von leichtem Holz enthielt, wenig Bequemlichkeit bot.

»Wie bin ich froh, endlich die lästige Larve ablegen zu können«, sagte sie, als sie mit ihrer Amme eintrat; sie sah sich nach einem Spiegel um, und als sie nur leere Bretterwände erblickte, setzte sie lächelnd hinzu: »Sie müssen mir schon statt eines Spiegels dienen, Gustav, und sagen, ob diese drängende Menge mir den Haarputz nicht verdorben hat?«

Entzückt und mit leuchtenden Blicken betrachtete der junge Mann das schöne Mädchen. Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen dunkeln Augen, beschattet von langen seidenen Wimpern, diese kühn gewölbten, glänzendschwarzen Braunen und die dunkeln Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirne und den schönen Hals fielen, und den Vereinigungspunkt dieser lieblichen Züge, zarte rote Lippen und die zierlichsten weißen Zähne noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame - sie wirkten, verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge Mann eine jener herrlichen Erscheinungen zu sehen glaubte, wie sie Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei ihrer Heimkehr malte.

»Wahrlich«, rief er, »du gleichst der Zauberin Armida, und so denke ich mir die Töchter deines Stammes, als ihr noch Kanaan bewohntet. So war Rebekka und die Tochter Jephthas.«

»Wie oft schon habe ich dies gesagt«, bemerkte Sara, »wenn ich mein Kind, meine Lea in ihrer Pracht anblickte; die Poschen und Reifröcke, die hohen Absatzschuhe und alle Modewaren stehen ihr bei weitem nicht wie diese Tracht.«

»Du hast recht, gute Sara«, erwiderte der junge Mann; »doch setze dich hier an den Tisch; du hast zu lange unter Christen gelebt, um vor diesem Punsch und diesem Backwerke zurückzuschaudern; unterhalte dich gut mit diesen Dingen.«

Sara, welche den Sinn und die Weise des Nachbars kannte, sträubte sich nicht lange und erbarmte sich über die Kunstprodukte der Zuckerbäcker; der junge Mann aber setzte sich einige Schritte von ihr neben die schöne Lea. »Und nun aufrichtig, Mädchen«, sagte er, »du hast Kummer, du hast gestern kaum das Weinen unterdrückt, und auch heute wieder ist eine Wolke auf dieser Stirne, die ich so gern zerstreuen möchte. Oder glaubst du etwa nicht, ungläubiges Kind, daß ich dein Freund bin und gerne alles tun möchte, um dich aufzuheitern?«

»Ich weiß es ja, oh, ich sehe es ja immer, und auch heute wieder«, sagte sie, mühsam ihre Tränen bekämpfend, »und es macht mich ja so glücklich. Als Sie mich das erste Mal an unserem Gartenzaun grüßten, als Sie nachher, es war anfangs Oktobers, mit mir über den Zaun hinüber sprachen, und nachher und immer so freundlich und traulich waren, gar nicht wie andere Christen gegen uns, da wußte ich ja wohl, daß Sie es gut mit mir meinen, und - es ist ja mein einziges, mein stilles Glück!« Sie sagte es, und einzelne Tränen stahlen sich aus den schönen Augen, indem sie sich bemühte, ihn freundlich und lächelnd anzusehen.

»Aber dennoch -?« fragte Gustav.

»Aber dennoch bin ich nicht glücklich, nicht ganz glücklich. In Frankfurt hatte ich meine Gespielinnen, hatte meine eigene Welt, wollte nichts von der übrigen. Ich dachte nicht nach über unsere Verhältnisse, es kränkte mich nicht, daß uns die Christen nicht achteten, ich saß in meinem Stübchen unter Freunden, und wollte nichts von allem, was draußen war. Mein Bruder ließ mich zu sich nach Stuttgart bringen. Man sagte mir, er sei ein großer Herr geworden, er regiere ein Land, in seinem Hause sei es herrlich und voll Freude, und die Christen leben mit ihm wie wir unter uns; ich gestehe, es freute mich, wenn meine Freundinnen meine Zukunft so glänzend ausmalten; welches Mädchen hätte sich an meiner Stelle nicht gefreut?«

Tränen unterbrachen sie aufs neue, und der junge Mann, voll Mitleid mit ihrem Kummer, fühlte daß es besser sei ihre Tränen einige Augenblicke strömen zu lassen. Es gibt ein Gefühl in der menschlichen Brust, das wehmütiger macht als jeder andere Kummer, ich möchte es Mitleiden mit uns selbst heißen, es übermannt uns, wenn wir am Grabe zerstörter Hoffnungen in die Tage zurückgehen, wo diese Hoffnungen noch blühten, wenn wir die fröhlichen Gedanken zurückrufen, mit welchen wir einer heiteren Zukunft entgegengingen; wahrlich, dieser bittere Kontrast hat wohl schon stärkere Herzen in Wehmut aufgelöst als das Herz der schönen Jüdin.

»Ich habe alles anders gefunden«, fuhr Lea nach einer Weile fort; »in meines Bruders Hause bin ich einsamer als in meiner Kindheit. Ich darf nicht kommen, wenn er Bälle und große Tafeln gibt. Die Musik tönt in mein einsames Zimmer, man schickt mir Kuchen und süße Weine wie einem Kinde, das noch nicht alt genug ist, um in Gesellschaft zu gehen. Und wenn ich meinen Bruder bitte, mich doch auch einmal, nur in seinem Hause wenigstens, teilnehmen zu lassen, so schlägt er es entweder ganz kalt ab, oder wenn er gerade in sonderbarer Laune war, erschreckte er mich durch seine Antwort.«

»Was antwortete er denn?« fragte der Jüngling gespannt.

»Er sieht mich dann lange und seufzend an, seine Augen werden trüber, seine Züge düster und melancholisch, und er antwortet, ich dürfe nicht auch verlorengehen; ich solle unablässig zu dem Gott unserer Väter beten, daß er mich fromm und rein erhalte, auf daß meine Seele ein reines Opfer werde für seine Seele.«

»Törichter Aberglaube!« rief der junge Mann unmutig; »darum also sollst du, armes Kind, allen Freuden des Lebens entsagen, damit er -«

»Hat er sich denn so arg versündigt?« fragte Lea, als ihr Freund, wie bei einer unbesonnenen Rede, schnell abbrach; » was soll ich denn büßen? Solche hingeworfene Worte machen mich so unglücklich; es ist mir, als schwebe irgendein Unglück über meinem Bruder, als sei nicht alles recht, was er tut. Niemand steht mir darüber Rede, auch Saras Worte kann ich nicht deuten, denn wenn ich sie darüber befrage, weicht sie aus oder nennt ihn geheimnisvoll den Rächer unsers Volkes.«

»Sie ist nicht klug«, erwiderte der junge Mann befangen; »dein Bruder hat, wie es überall geht, eine mächtige Gegenpartei; manche seiner Finanzoperationen werden getadelt; aber wegen seiner darfst du ruhig schlafen«, setzte er bitter lachend hinzu, »der Herzog hat ihm heute einen Freibrief geschenkt, der ihn vor jeder Gefahr und Verantwortung sichert.«

»O wie danke ich dies dem guten Herzog!« sagte sie aufgeheitert, indem sie die dunkeln Locken aus der weißen Stirne strich; »so hat er also gar niemand zu fürchten? die Christen können ihn nicht verfolgen? - Sie antworten nicht? Gestehen Sie nur, Gustav, Sie sind meinem armen Bruder gram?«