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»Deinem armen Bruder? - wenn er arm wäre, könnte ich ihn vielleicht um seines Verstandes willen ehren! Aber was geht uns dein Bruder an?« fuhr Lanbek düster lächelnd fort. »Ich liebe dich, und hättest du alle bösen Engel zu Brüdern; aber eines versprich mir, Lea; die Hand darauf.«

Sie sah ihn erwartungsvoll und zärtlich an, indem sie ihre Hand in die seinige legte.

»Bitte deinen Bruder niemals wieder«, fuhr er fort, »dich zu seinen Zirkeln zuzulassen. Mag er nun Gründe haben, welche er will, es ist gut, wenn du nicht dort bist; soviel kann ich dich versichern«, setzte er mit blitzenden Augen hinzu, »wenn ich wüßte, daß du ein einziges Mal dort gewesen, kein Wort mehr würde ich mit dir sprechen!«

Befangen und mit Tränen im Auge wollte sie eben um Aufschluß über dieses neue Rätsel bitten, als ein lauter Zank im Nebenzimmer die Liebenden aufstörte. Mehrere Männer schienen mit der Polizei sich zu streiten, man hatte die Türe des Kabinetts gesprengt, und über diesen Eingriff in die Rechte des Karnevals wurde schnell und mit Heftigkeit gestritten.

»Mein Gott! das ist meines Vaters Stimme«, rief der junge Lanbek, »schleiche dich mit Sara in den Saal, Mädchen; nehmet den Schlüssel dieser Türe zu euch, vielleicht können wir später uns wieder sehen.« Er drückte der überraschten Lea schnell einen Kuß auf die Stirne, nahm seine Maske vor, und noch ehe sie sich über diesen schnellen Wechsel besinnen konnte, war der Aktuarius schon aus der Türe gestürzt. Im Korridor, den er jetzt betrat, stand schon eine dichte Menschenmasse um die geöffnete Türe des Nebenzimmers versammelt. Deutlicher vernahm er die gewichtige, tiefe Stimme seines Vaters; er stieß und drängte sich wie ein Wütender durch und kam endlich in das Gemach. Fünf alte Herren, die ihm als ehrenwerte Männer und Freunde seines Vaters wohlbekannt waren, standen um den alten Landschaftskonsulenten Lanbek; die einen zankten, die andern suchten zu beruhigen. Es war damals eine gefährliche Sache mit der Polizei in Streit zu geraten; sie stand unter dem besondern Schutz des jüdischen Ministers und man erzählte sich mehrere Beispiele, daß biedere, ruhige Bürger und Beamte, vielleicht nur weil sie einem Diener dieser geheimen Polizei widersprochen oder Gewalttätigkeit verhindert hatten, mehrere Wochen lang ins Gefängnis geworfen und nachher mit der kahlen Entschuldigung es sei aus Versehen geschehen, entlassen worden waren. Doch der alte Lanbek schien keine Furcht vor diesen Menschen zu kennen; er bestand darauf, daß die Häscher das Zimmer sogleich verlassen müßten, und es wäre vielleicht noch zu schlimmem Händeln als einem Wortwechsel gekommen, wenn nicht in diesem Augenblick ein ganz anderer Gegenstand die Aufmerksamkeit des Anführers der Häscher auf sich gezogen hätte. Der junge Lanbek hatte sich beinahe bis an die Seite seines Vaters vorgedrängt, bereit, wenn es zu Tätlichkeiten kommen sollte, den alten Herrn kräftig zu unterstützen. Er hatte eben seine Maske fester gebunden, damit sie ihm im Handgemenge nicht verlorengehen möchte, als ihn der Polizeidiener erblickte und mit lauter Stimme, indem er auf ihn deutete, rief: »Im Namen des Herzogs, diesen greift, den Türken dort, der ist der Rechte.«

Die Überraschung und sechs Arme, die sich plötzlich um ihn schlangen, machten ihn wehrlos. So nahe seinem Vater, der ihn hätte retten können, wagte er doch nicht, sich auch nur durch einen Laut zu erkennen zu geben, weil er den Zorn seines Vaters noch mehr fürchtete, als die Gewalt des Juden.

Die alten Herrn waren stumm vor Staunen über diesen Vorfall, der Anführer der Häscher wurde, als er seinen Zweck erreicht hatte, artiger und entschuldigte sich, worauf jene kalt und abgemessen dankten. Willenlos ließ sich der junge Mann dahinführen. Die Menge, die sich vor der Türe versammelt hatte, teilte sich, aber manche schauten ihm neugierig in die Augen, um zu erraten, wer es sein möchte, den man hier mitten aus der öffentlichen Lust herausriß. Gustav hörte, als er weiter hingeführt wurde, einen schwachen Schrei; er sah sich um, und beim schwachen Schein der Lampen glaubte er den Turban der schönen Orientalin gesehen zu haben. Schmerzlich bewegt ging er weiter, und erst als die kalte Winternacht schneidend auf ihn zuwehte, erwachte er aus seiner Betäubung und übersah nicht ohne Besorgnis die Folgen, die seine Gefangennehmung haben könnte.

5

Die Polizeidiener hatten den Sarazenen, wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine feine und reiche Kleidung in das Offizierszimmer der Hauptwache gebracht. Der wachhabende Offizier wies ihm mit einer mürrischen Verbeugung eine Bank, die in der fernsten Ecke des Zimmers stand, zu seiner Schlafstätte an, und ermüdet von dem langen Umherirren auf dem Ball, fand der junge Mann dieses Lager nicht zu hart, um nicht bald einzuschlafen.

Trommeln weckten ihn am nächsten Morgen; schlaftrunken sah er sich in dem öden Gemach um, blickte bald auf sein hartes Lager, bald auf seine Kleidung, und nach einer geraumen Weile erst konnte er sich besinnen, wo er sei und wie er hieher gekommen. Er trat ans Fenster, noch war alles still auf dem Platze vor der Hauptwache, und nur die Kompanie, die gerade vor seinem Fenster zur Ablösung aufzog, unterbrach die Stille des trüben Februarmorgens. Indem die Trommeln auf der Straße schwiegen, hörte er von der Stiftskirche acht Uhr schlagen, und der Ton dieser Glocke rief ihm alles Unangenehme und Besorgliche seiner Lage zurück. Bald wird er nach dir fragen, dachte er, und wie unangenehm wird es ihn überraschen, wenn er hört, ich sei in dieser Nacht nicht zu Hause gekommen! - Im Hause des alten Landschaftskonsulenten Lanbek ging alles einen so geordneten Gang, daß dieses Ereignis allerdings sehr störend erscheinen mußte. Zu dieser Stunde pflegte der alte Herr seit vielen Jahren sein Frühstück zu nehmen; mit dem ersten Glockenschlag erschien dann, zugleich mit dem Diener, der den Kaffee auftrug, sein Sohn; man besprach sich über Tagesneuigkeiten, über den Gang der Geschäfte, und zu jener Zeit ließ es der allgewaltige Minister nicht an Stoff zu solchen Gesprächen fehlen. Das Gespräch war regelmäßig mit dem Frühstück zu Ende; der Aktuarius küßte dem Alten die Hand und ging dann einen Tag wie den andern ein Viertel vor neun Uhr nach seiner Kanzlei. Diese langjährige Sitte des Hauses rief sich Gustav in diesen Augenblicken zurück. »Jetzt wird Johann die Tassen bringen«, sagte er zu sich, »jetzt wird er erwartungsvoll nach der Türe sehen, weil ich noch nicht eingetreten bin, jetzt wird er mich rufen lassen; - daß ich doch dem guten alten Herrn solchen Arger bereiten mußte!« Er warf unwillig seinen Turban weg, stützte die Stirne in die Hand und beschloß, den Offizier, sobald er wieder erscheinen würde, um die Ursache seiner Verhaftung zu fragen.

Die Trommeln ertönten wieder, die Abgelösten zogen weiter, er hörte die Gewehre zusammenstellen und bald darauftrat ein Offizier in das halbdunkle Gemach. Er warf einen flüchtigen Blick nach seinem Gefangenen in der Ecke, legte Hut und Degen auf den Tisch und setzte sich nieder. Lanbek, der jenen nicht zuerst anreden mochte, bewegte sich, um anzudeuten, daß er nicht mehr schlafe. »Bon jour, mein Herr!« sagte der Offizier, als er ihn sah, »wollen Sie vielleicht mein Dejeuner mit mir teilen?«

Die Stimme schien Gustav bekannt; er stand auf, trat höflich grüßend näher, und mit einem Ausruf des Staunens standen sich die beiden jungen Männer gegenüber. »Parole d'honneur, Herr Bruder!« rief der Kapitän von Reelzingen, » dich hätte ich hier nicht gesucht! wie kömmst du in Arrest? Weiß Gott, Blankenberg hatte nicht unrecht, als er prätendierte, du werdest irgend etwas contra rationem riskieren.«

»Ich möchte dich fragen, Kapitän«, entgegnete der junge Mann, »warum ich hier sitze? mir hat kein Mensch den Grund angegeben, warum man mich gefangennehme; du hast die Wache, Reelzingen; bitte dich, du mußt doch wissen -«

»Dieu me garde! ich?« rief der Kapitän lachend; »meinst du, er habe mich mit seiner besondern Ästimation beehrt und in seine Confidence gezogen? Nein, Herr Bruder! als ich ablöste, sagte mir der Lieutenant von gestern: >Oben sitzt einer, den sie vom Karneval auf ausdrücklichen Befehl hergebracht haben.< Er pflegt es gewöhnlich so zu machen.«