Er dachte sofort an einen feindlichen Sturmangriff; und als ich ihn aufklärte, war er zwar beruhigt, aber nicht glücklich. Er nahm Papier und Bleistift und schrieb:
SIND WIR GERETTET?
»Ja, Julian, das versuche ich dir doch die ganze Zeit klarzumachen! Die Männer sind in den Straßen und jubeln!«
ÜBERFLÜSSIG ALSO — UNSER VERSUCH DURCHZUBRECHEN
»Aber wir konnten doch nicht wissen …«
WIE VIELE TOTE FÜR NICHTS HUNDERTE TAUSENDE KÖNNTEN NOCH LEBEN, WENN ICH NUR GEWARTET HÄTTE
»So darfst du nicht denken, Julian!«
BLUT AN MEINEN HÄNDEN
»Nein, du warst großartig!«
Er wollte es partout nicht wahrhaben.
Ein Adjutant traf ein und meldete, der Admiral wünsche Julian zu sehen, um die Evakuierung unserer Truppen aus Striver zu besprechen.
RICHTEN SIE IHM AUS, ICH SEI NICHT DA, schrieb Julian; es waren nicht seine Worte — nur die seiner Verletzungen.
Der Admiral wurde sofort vorgelassen.
Es tat so gut, den alten Marineoffizier wiederzusehen, dass ich den Tränen nahe war. Seine Uniform war so strahlend hell und verwegen, als sei er — wohlversorgt mit patriotischen Schneidern — aus einem fernen Walhall zu uns herabgestiegen. Er nahm Julian mit der wissenden Anteilnahme eines Mannes in Augenschein, der schon oft verwundete Männer und Schlimmeres gesehen hatte. »Bleiben Sie liegen«, sagte er, als Julian Anstalten machte, sich aufzusetzen und militärisch zu grüßen. »Und versuchen Sie nicht zu sprechen, wenn Ihre Wunden es nicht erlauben.«
ICH KANN SCHREIBEN, schrieb Julian hastig, und ich las vor.
»Nun«, meinte Fairfield, »was noch zu sagen wäre, kann noch ein Weilchen warten. Das Wichtigste ist, dass Ihre Männer gerettet sind — die Belagerung ist aufgehoben.«
ZU SPÄT, schrieb Julian, aber ich konnte doch nicht so etwas Pessimistisches an den Admiral weitergeben. »Julian spricht Ihnen seinen Dank aus«, sagte ich und überging die Blicke, mit denen Julian mich durchbohrte. Seine Augen übernahmen das gesamte Mienenspiel, denn die Wunden waren so empfindlich, dass selbst ein Stirnrunzeln Schaden angerichtet hätte.
»Keine Ursache. Im Gegenteil, ich muss mich entschuldigen, dass wir so lange gebraucht haben.«
DEKLAN WOLLTE, DASS ICH HIER STERBE EIN WOHLDURCHDACHTER PLAN WAS HAT SICH GEÄNDERT?
»Julian meint, die Verzögerung sei schließlich nicht Ihre Schuld. Er möchte aber zu gerne wissen, welche Umstände diesen Befreiungsschlag ermöglicht haben.«
»Aber ja — wie konnte ich vergessen, dass Sie von allen Nachrichten abgeschnitten waren«, sagte der Admiral. »Der Befehl, der uns vom Lake Melville fernhielt, wurde annulliert.«
DEKLAN MUSS TOT SEIN
»Julian will wissen, wie es seinem Onkel geht.«
»Das ist der springende Punkt«, sagte Admiral Fairfield nickend. »Es ist schlicht so, dass Deklan der Eroberer abgesetzt wurde. Nicht zuletzt wegen des Berichts über den Goose-Bay-Feldzug, den Sie, Colonel Hazzard, auf den Weg gebracht haben, als ich diesem Ufer den Rücken kehren musste. Der Spark hat den Bericht in der irrigen Annahme gedruckt, es sei ganz im Sinne von Deklan dem Eroberer, Julians Heldentaten unters Volk zu bringen. Aber zwischen den Zeilen war deutlich zu lesen, dass die Exekutive Julian im Stich gelassen hatte. Die Laurentische Armee war sowieso schon höchst unzufrieden mit Deklans Missregierung und seiner Arroganz — das Maß war voll.«
HAT MAN IHN UMGEBRACHT?
»Hat Deklan der Eroberer aus freien Stücken abgedankt?«, fragte ich stattdessen.
»Überhaupt nicht. Eine Brigade kam von den Laurentischen Bergen nach New York City marschiert und hat den Präsidentenpalast besetzt. Die Republikanische Garde hat offenbar keinen Widerstand geleistet — die Männer hatten keine höhere Meinung von Deklan Comstock als jeder andere.«
LEBT DER MÖRDER NOCH?
»Wurde Julians Onkel bei dem Putsch verletzt?«
»Man hält ihn im Palast gefangen.«
WER ERHEBT ANSPRUCH AUF DIE PRÄSIDENTSCHAFT?
»Hat man schon einen Nachfolger nominiert?«
Admiral Fairfield wirkte ein wenig verlegen. »Ich wünschte, ich könnte diese Nachricht feierlicher überbringen«, sagte er, »und an einem angemesseneren Ort, aber — ja«, sagte er und sah Julian fest in die Augen, »ein Nachfolger ist nominiert, sobald ich bestätige, dass er überlebt hat. Der Nachfolger sind Sie, General Comstock. Ich sollte wohl besser ›Präsident Comstock‹ sagen. Oder ›Julian der Eroberer‹, wie die Infanterie Sie gerne nennt.«
Julian sank auf das primitive Bett zurück, die Augen zugepresst. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Ich glaube, Admiral Fairfield sah darin eine körperliche Reaktion auf den Wundschmerz oder einen Schwächeanfall. Es folgte ein betretenes Schweigen. Dann verlangte Julians Hand unmissverständlich nach Papier und Bleistift.
DAS IST SCHLIMMER ALS DER TOD (schrieb er) ICH WÜNSCHTE, DIE DEUTSCHEN HÄTTEN MICH GETÖTET O GOTT, NEIN SAG IHM, ER SOLL SICH ZUM TEUFEL SCHEREN ZUM TEUFEL MIT ALLEN ICH STEHE NICHT ZUR VERFÜGUNG
»Julian ist zu erregt, um seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen«, sagte ich. »Er fühlt sich durch die Ehre gedemütigt, die ihm so unverhofft zuteilwird, und hofft, die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht zu enttäuschen. Aber er ist jetzt erschöpft und braucht dringend Ruhe.«
»Danke, Colonel«, sagte der Admiral, »und gute Besserung, Mr. President.«
FÜNFTER AKT
Julian der Eroberer sowie
The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin
(Weihnachten 2174 bis Weihnachten 2175)
1
Nun komme ich zum letzten Kapitel meiner Geschichte, in dem ich die Regierungszeit von Julian dem Eroberer, Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte und Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, schildern werde, und zwar so, wie ich diese Zeit erlebt habe, mit all ihren Tragödien und versöhnlichen Freuden.
Jene Ereignisse gehen mir immer noch sehr nahe, obwohl seither viel Zeit vergangen ist. Meine Hand zittert angesichts der Aufgabe, sie in Worte zu fassen. Doch der Leser und ich haben bis jetzt durchgehalten, und da will ich doch, koste es, was es wolle, die Sache auch zu Ende bringen.
Da fällt mir ein, dass ein Vorzug der Schreibmaschine als einer der Literatur dienenden Erfindung darin besteht, dass Tränen, die während der Arbeit vergossen werden, nur ganz selten einmal auf das Papier fallen und das Geschriebene verlaufen lassen. Eine gewisse Klarheit ist also sichergestellt und anders nicht zu haben.
2
Als wir im Hafen anlegten, war ganz Manhattan herausgeputzt für das Fest der Geburt Christi. Einen solchen Rausch an Schmuck hatte ich noch nie gesehen, als sei die City ein einziger Weihnachtsbaum voller Kerzen und Flitter; bis Heiligabend waren es noch achtundvierzig Stunden — aber das alles bedeutete mir wenig oder gar nichts, denn ich bangte um das Schicksal von Calyxa.
Julian, ich und die anderen Überlebenden des Goose-Bay-Feldzugs hatten uns drei Wochen lang in dem amerikanischen Hospital in St. John’s, Neufundland, verwöhnen lassen — frische Kost, sauberes Bettzeug und abgekochtes Wasser taten größere Wunder als jede Arznei; und Julians Gesichtsverletzung war trotz und wegen meiner stümperhaften Naht schon fast verheilt. Die Narbe schlug einen Bogen zwischen Kiefergelenk und rechtem Nasenloch und sah aus wie ein zweiter Mund, erstarrt und dauerhaft verschlossen. Aber was war das schon im Vergleich zu anderen Kriegsverletzungen, und besonders eitel war Julian auch nicht.
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